Dieser Artikel wird mit freundlicher Genehmigung der “MarineForum — Zeitschrift für maritime Fragen” veröffentlicht.
Für die Worte Krise und Chance wird im Chinesischen ein identisches Schriftzeichen verwendet. Das unterstreicht die Annahme, dass jede noch so überwältigende Herausforderung das Potenzial bietet, etwas konstruktiv Neues zu beginnen.
Vor solch einer Gelegenheit steht – wieder einmal – die deutsche Sicherheitspolitik, diesmal in der Heimat. Der Bundesminister der Verteidigung hat die Machtvergessenheit seines Amtes überwunden und sich vor dem Hintergrund der verordneten Einsparungen engagiert an die Spitze der Umgestaltung der Streitkräfte gesetzt. Offenbar sah er ordnungspolitischen Spielraum, der von anderer Stelle nicht genutzt werden wollte oder konnte. Die Diskussion über nichts weniger als die Zukunft der Truppe aber ist den Verantwortlichen durch das spekulative Lancieren von zum Teil aus der Luft gegriffenen Zahlen schnell entglitten. Die Fliehkräfte der Auseinandersetzung könnten zum »Agenda-2010«-Moment für die Merkel-Regierung werden. Damit wäre letztlich aber weder der Bundeswehr noch der Sicherheitspolitik gedient. Die Wehrpflichtdebatte ist zum Feigenblatt für die vergebene Chance geworden, eine ernste umfassendere sicherheitspolitische Diskussion zu führen. Stattdessen entfaltet die halbherzige Koalitionsvereinbarung von 2009 ihre volle Sprengwirkung.
Reflexartig hofft nun der Bürgermeister, dass der Kelch an dem in seiner Gemeinde liegenden Stützpunkt und den davon abhängenden Arbeitsplätzen vorbeigeht, und auch der Marineangehörige beißt sich auf die Lippen und fleht darum, seine Teilstreitkraft möge verschont werden. Das ist angesichts der Belastungen in den letzten Jahren wenig verwunderlich, genannt seien hier überblickartig: Vervielfachung der Bedrohungen, Überbelastung von Mensch und Material, drohende Fähigkeitslücken, Kampf um die besten menschlich-fachlich-intellektuellen Kräfte, Rechtssicherheit im Auslandseinsatz und – auch das noch – fortwährende Transformation der Streitkräfte vor dem Hintergrund einer aus den Fugen geratenen Welt. Für die Marine verhält es sich also ein wenig wie mit der aktuellen Ausbildungsfahrt der Gorch Fock rund um Kap Hoorn: Der Kurs liegt an, die Mannschaft ist motiviert, trifft viele Vorkehrungen und verharrt doch in ungewisser Erwartung enormen Wellengangs und stürmischer Winde – auf dass nach erfolgtem Törn besseres Wetter, ruhigere See und ein sicherer Hafen warten.
Dass die Sparanstrengungen richtig und wichtig sind, steht außer Frage. Die Generation, die im 21. Jahrhundert erwachsen wird, muss auch in Zukunft Gestaltungsspielraum haben. Was jetzt halbherzig oder gar nicht passiert, kann in absehbarer Zeit erschreckendes Erwachen bedeuten. Die Zukunft des Maritimen – als gut geschmiertes Instrument der Sicherheitspolitik, als potenzieller Arbeitgeber, als diplomatisches Werkzeug, als Wirtschaftsfaktor – bedarf einer nachhaltigen Politik. Gerade solch eine Debatte um die Zukunft der Bundeswehr bietet die Chance, die Ziele, Mittel und Interessen in Einklang zu bringen, sie verständlich zu artikulieren, sich selbst und allen Bürgern zu vermitteln. Hier ist die Politik gefordert: Sie muss endlich klarmachen, was sie sich von der Deutschen Marine wünscht. Sie muss sagen, was man sich leisten kann – und was nicht. Sie muss skizzieren, welche politischen Szenarien Maßstab sind.
Doch auch die Marine selbst ist gefragt, die Chance beim Schopf zu greifen: Sie muss vom bloßen Objekt zum Akteur der Debatte werden. Hier hat jede und jeder vom Matrosen bis zum Admiral die Möglichkeit, mit seinen Abgeordneten oder mit dem Bundeswehrverband als Interessenvertretung ins Gespräch zu kommen. Es mag opportun sein, auf das »Sankt-Florian-Prinzip« zu setzen; die militärische und strategische Ratschlagspflicht erfüllt solch ein Verhalten nicht. Admiral Schimpf hat die Rahmenbedingungen ja bereits formuliert: Die Gelegenheit ist günstig, denn das situative Wissen ist da, die übergeordnete Zielvorstellung Marine 2025+ liegt vor und die Marine hat ein hohes Ansehen in der Bevölkerung.
Zum Autor
Sebastian Bruns promoviert an der Christian-Albrechts-Universität Kiel und arbeitet als freier Analyst im Bereich Maritime Sicherheit