Die Verlegung des nukleargetriebenen Kreuzers „Petr Velikiy“ und des weltgrößten U‑Bootes „Dmitrij Donskoy“ von der Nordflotte in die Ostsee, nur um dort an der Parade zum diesjährigen Tag der Marine teilzunehmen, sollte der russischen Bevölkerung die „Seemacht Russland“ vor Augen führen. Ausländische Experten waren sich dagegen einig, dass die spektakulären „Supereinheiten“ im Randmeer Ostsee bloße Staffage für eine politische Show waren. Als Beweis für eine „Seemacht Russland“ konnten sie nicht herhalten.
„Seemacht“ im Blick …
Eine generelle Definition sieht in „Macht“ die „Fähigkeit, einseitig definierte Ziele durchzusetzen, ohne sich selbst äußeren Ansprüchen zu unterwerfen“. „Seemacht“ war für den US-Admiral Alfred Thayer Mahan (1840–1914) u.a. „ein Land, das ozeanischen Seehandel betreibt, über eine große Handelsflotte verfügt und zu deren Schutz eine Marine unterhält“. Heute gehören im allgemeinen Verständnis zu einer Seemacht auch Wille und Fähigkeit, mit einer global autark operierenden Marine eigene maritime und sicherheitspolitische Interessen durchzusetzen; und dies nicht nur auf Hoher See, auf den ozeanischen Seehandelswegen, sondern auch vor einer Küste (Power Projection from the Sea). Globale Reichweite und bloße Präsenz auf den Weltmeeren allein begründen ganz sicher nicht einen Anspruch auf Anerkennung als „Seemacht“, und auch der Unterhalt einer seegestützten nuklearen Zweitschlagsfähigkeit definiert eine Nation nicht per se schon also solche.
Dieser Artikel wird mit freundlicher Genehmigung der „MarineForum – Zeitschrift für maritime Fragen“ veröffentlicht.
Als Zar Peter I. 1696 die russische Marine gründete, hatte er durchaus den Aufbau einer Seemacht im Blick, wie sie Mahan etwa 200 Jahre später definieren sollte. Zwischen Atlantik und Pazifik war Russland globale Entfernungen umspannende Landmacht, aber Zar Peter sah die Zukunft seines Landes in einem sich über die Randmeere hinaus auf die Weltmeere entwickelnden Seehandel, mit einer durch eine Marine zu schützenden Handelsflotte. Er fokussierte sich auf die Ostsee, wo seine Marine tatsächlich auch die damalige regionale Vormachtstellung Schwedens brechen konnte – wenngleich Kontrolle der Ostseezugänge und damit wirklich freier Zugang zu den Weltmeeren Wunschtraum bleiben sollte.
50 Jahre später gewann Zarin Katharina II. mit Eroberung der Krim über das Schwarzmeer Zugang zum Mittelmeer; die Kontrolle der Türkischen Meerengen blieb ihr jedoch verwehrt. 1860 wurde im Fernen Osten Wladiwostok gegründet und entwickelte sich als Zentrum für den Asien-Handel. 1916 wurde schließlich im Norden das durch den Golfstrom fast ganzjährig eisfreie Murmansk Hafen für die russische Handelsflotte und Stützpunkt der Marine.
Russland hatte damit im Norden, Westen, Süden/Südwesten und Osten – teils mittelbar über Randmeere – Zugang zu den Weltmeeren und zum globalen Seehandel. Der Traum von Peter I. war also erfüllt. In allen vier Richtungen aufgestellte Flotten gaben der Marine allein schon wegen der geografischen Ausdehnung Russlands und später der Sowjetunion quasi globale Reichweite. Mit hochseefähigen Schiffen war sie auf den Ozeanen präsent, besuchte weltweit befreundete Marinen, verlegte auch schon mal Verbände in ein Krisengebiet, griff jedoch nie aktiv in heimatferne Konflikte ein. In Kriegen blieben die Flotten operativ weitgehend auf das nähere Umfeld ihrer jeweiligen Regionen beschränkt (ein Versuch im Russisch-Japanischen Krieg, der Pazifikflotte die Baltische Flotte zur Hilfe zu schicken, scheiterte kläglich). Ohne überseeische Kolonien bestand für sie letztendlich auch nie Notwendigkeit, transozeanische Seeverkehrswege schützen oder heimatferne hoheitliche Ansprüche durch Einsatz der Marine militärisch verteidigen zu müssen.
Ungeachtet aller markigen Bekundungen von Politikern ist die militärische Durchsetzung nationaler Interessen fernab der Heimatgewässer (Expeditionary Warfare) ganz offensichtlich nicht Auftrag der Marine. Ein Grund dafür mag sein, dass Russland sich trotz aller erklärten maritimen Ambitionen doch eher als kontinentale Landmacht begreift, die zwar globale Distanzen umspannt, deren sicherheitspolitische Prioritäten aber mehr der heimatlichen Landmasse als den Weltmeeren gelten. Die das riesige Land existenziell bedrohenden Invasionen Napoleons und Hitlers mögen hier noch nachwirken.
… aber Priorität hat die „Rodina“
Oberste Aufgabe der russischen Streitkräfte ist der Schutz der Heimat, der „Rodina“, wobei die Marine mit ihren Flotten die seeseitigen Flanken zu einem geschützten Raum – einer für einen Feind uneinnehmbaren „Bastion“ – machen soll. In einem Küstenverteidigungskonzept mit erweiterten Fähigkeiten zu Anti-Access/Sea Denial soll sie mit mehreren in der Tiefe gestaffelten „Verteidigungslinien“ feindliche See- und Luftstreitkräfte möglichst weit vor dem russischen Festland abfangen. Bis heute basieren nahezu alle größeren Übungen auf an diesem Konzept orientierten Szenarien.
Sicher auch in Reminiszenz an sowjetische Zeiten betrachtet Russland das Schwarze Meer und die Ostsee als von ihm (allein) zu beherrschende Pufferzonen vor der eigenen Küste. Nicht zuletzt die Reichweiten moderner Waffensysteme bedingen eine zunehmende räumliche Ausdehnung der regionalen „Bastionen“, die an der Nordflanke und im Westpazifik im Rahmen der nuklearen Abschreckung (Zweitschlagsfähigkeit) vor allem auch die Bedrohung für eigene nuklear-strategische U‑Boote minimieren sollen. So können sich die vordersten der in der Tiefe gestaffelten „Verteidigungslinien“ durchaus am Bosporus und an den Dänischen Meerengen finden, ja über Letztere hinaus sogar in der Nordsee und im offenen Nordatlantik (Unterbindung von NATO-Nachschub stärkt die Defensive an den eigenen Landgrenzen).
Machtprojektion in Richtungen Westen (Europa) und Südwest (Mittelmeer/Nah-Mittelost) fand im Kalten Krieg an den von NATO-Staaten beherrschten Dänischen Meerengen und am Bosporus Grenzen. Zwar operierte die sowjetische Marine über diese hinaus, aber in einem Konfliktfall wäre die Rückkehr zu den für „rückwärtige Dienste“ (Werftkapazität) unverzichtbaren Stützpunkten in Ostsee und Schwarzem Meer versperrt. Im Mittelmeer trug die sich logistisch auf Häfen und Ankerplätze in bzw. vor verbündeten/befreundeten Ländern abstützende „5. Eskadra“ noch über den Zerfall der Sowjetunion hinaus bis 1993 diesem Problem Rechnung.
Permanente Auslands-Präsenz stößt an Grenzen
Die letzten Jahre lassen ein Bemühen zur Rückkehr zu einem solchen Konzept erkennen. Ein 2012 vorgestellter Plan sah für alle Flotten die Aufstellung von Flottillen vor, mit denen rund um die Welt in maritimen Schlüsselregionen Präsenz gezeigt und wo erforderlich russische Interessen auch durchgesetzt werden sollen. Noch im gleichen Jahr wurde das „Ständige Mittelmeergeschwader“ (Mediterranean Squadron — MedSqn) aufgestellt.
Die MedSqn bleibt bis heute der einzige „permanent in außerheimischen Gewässern präsente“ Verband, wobei nicht verwundern kann, dass die diesen Verband operativ führende Schwarzmeerflotte im Konzept von 2012 Priorität erhalten hat. Das Schwarzmeer ist für Russland maritimes Sprungbrett ins Mittelmeer und darüber hinaus bis in den Indischen Ozean – eine geostrategisch wichtige Region, in der man beträchtliches Potenzial für politische Einflussnahme sieht; auch der im Frühjahr 2011 begonnene syrische Bürgerkrieg dürfte bei Aufstellung der MedSqn eine Rolle gespielt haben.
Dass neben der MedSqn bisher noch keine weiteren „Präsenz-Flottillen“ aufgestellt wurden, hat sicher mehrere Gründe. Zum einen findet die russische Marine im syrischen Tartus ihren weltweit einzigen permanenten ausländischen Abstützpunkt. Alle Verhandlungen zu vergleichbaren Stützpunktrechten auch in anderen Teilen der Welt blieben bisher erfolglos. Sicher ist Nachversorgung auch in zivilen Häfen möglich (so nutzt die MedSqn auch regelmäßig Limassol in Zypern), aber dies kostet Devisen und dürfte in Kriegszeiten schnell Grenzen finden.
Zum anderen zeigt die Verlegung von Einheiten der Nordflotte und der Baltischen Flotte, ja sogar der Pazifikflotte zur MedSqn aber auch, dass die russische Marine bei der Assignierung von Schiffen zu permanenten außerheimischen Präsenzverbänden an ihre Grenzen stößt. Die Schwarzmeerflotte allein ist zurzeit nicht in der Lage, permanent eine ausreichende Anzahl von Kampf- und Hilfsschiffen zur MedSqn abzustellen. Bei auch in den anderen Flotten nur begrenzten „Kampfkernen“ einsatzklarer Schiffe dürfte die Aufstellung weiterer, ähnlicher Einsatzgruppen sehr schnell zu Kräfteüberdehnung führen.
Der operative Wert der MedSqn und auch eventuell weiterer „Präsenzflottillen“ bleibt begrenzt. Sie dienen neben politischer Solidaritätsbekundung oder Beobachtung einer krisenhaften Entwicklung de facto nur bloßer Abschreckung. Die russische Marine steht hier in direkter Nachfolge der sowjetischen Marine, die sich in zahlreichen Konflikten immer auf bloße Präsenz beschränkt und nie wirklich von See her aktiv in einen Konflikt eingegriffen hatte. In den Nahostkriegen zog sie sich sogar räumlich zurück und versagte den Verbündeten Syrien und Ägypten den zuvor öffentlich versprochenen militärischen Beistand. Dies war ganz sicher keine „Feigheit vor der eigenen Courage“ sondern die sachliche Feststellung einer unter realer Bedrohung fernab von Heimatgewässern nicht gegebenen Durchhaltefähigkeit.
Reale „Power Projection“ – oder bloße Fähigkeitsdemonstration?
Seit 2016 soll die MedSqn mit direktem Eingreifen in den syrischen Bürgerkrieg politisch wie militärisch ein Umdenken signalisieren und zeigen, dass auch die russische Marine „auf Augenhöhe“ mit der US-Navy und anderen Marinen durchaus zu „Power Projection from the Sea“ fähig ist. Öffentlichkeitswirksam wurde der Flugzeugträger „Admiral Kuznetsov“ zum Einsatz seiner Kampfflugzeuge ins Mittelmeer verlegt, und FK-Korvetten und U‑Boote schossen aus dem Mittelmeer und dem Kaspischen Meer Marschflugkörper auf Landziele in Syrien.
Real betrachtet war dies jedoch wenig mehr als bloße Fähigkeitsdemonstration, teils sicher auch praktische Erprobung von Waffensystemen und operativen-/taktischen, auch teilstreitkraft-gemeinsamen Konzepten. Für die Operationsführung in Syrien spielte und spielt die russische Marine nur eine sehr nachgeordnete Rolle. In den drei Monaten vor der syrischen Küste wurden von der „Admiral Kuznetsov“ wenig mehr als 100 Flugzeugeinsätze (am unteren Ende der Tages-Rate eines US-Flugzeugträgers) gestartet, wobei die Trägerkampfflugzeuge zeitweise sogar von Landbasen in Syrien eingesetzt wurden; im gleichen Zeitraum flogen in Syrien stationierte Kampfflugzeuge der russischen Luftwaffe mehr als 10.000 Einsätze. Im Vergleich mit den von diesen abgeworfenen Bomben ist auch die Wirkung der von See geschossenen Marschflugkörper Kalibr verschwindend.
Power Projection „From the Sea“ sieht sicher anders aus, zumal die Einheiten im östlichen Mittelmeer unter Friedensbedingungen, völlig ungehindert und abseits jeder realen Bedrohung operierten, teils sogar aus vorher angekündigten Warngebieten operierten.
Klassisches Element einer zu globaler Power Projection fähigen Seemacht ist eine starke amphibische Komponente. Bei der russischen Marine sind zurzeit nur die teils 40 Jahre alten Landungsschiffe der ROPUCHA- und ALLIGATOR-Klasse über die Randmeere hinaus verlegbar. Das neue Landungsschiff „Ivan Gren“ ist im Zulauf, ein Schwesterschiff im Bau, aber auch mit diesen Neubauten hält die russische Marine an einem veralteten Konzept fest. Angesichts der Reichweite moderner Küstenverteidigungssysteme sind alle anderen global operierenden Marinen inzwischen dazu übergegangen, große amphibische Einheiten „hinter dem Horizont“ zu halten, Truppen und Fahrzeuge von dort aus mit Hubschraubern und Landungsbooten an Land zu setzen und die ganze Operation mit einer organischen Luftkomponente zu sichern.
Die russische Marine muss dagegen selbst bei einer Seelandung an einer verteidigten Küste ihre amphibischen Transportschiffe direkt an einen Strand fahren; Transporthubschrauber oder Landungsboote werden an Bord nicht mitgeführt. Zur Luftraumsicherung muss bordgestützte Flugabwehr reichen. Dieses Konzept mag für heimatnahe Randmeeroperationen taugen, wo landgestützte Kampfflugzeuge auch substanzielle Unterstützung geben können. Fernab der Heimat, ohne Abstützung auf ein Gastland (Flugplätze) und in einem Umfeld hoher Bedrohung dürfte es zur Erfolglosigkeit verdammt sein.
Dieses Dilemma ist schon länger erkannt und sollte durch die Beschaffung von Hubschrauberträgern der französischen MISTRAL-Klasse beseitigt werden. Nach Scheitern dieses Vorhabens (Ukraine-Sanktionen) sollen nun ab etwa 2019 Hubschrauberträger im Eigenbau entstehen. Bis zu deren operativer Verfügbarkeit dürfte allerdings noch ein volles Jahrzehnt vergehen.
Mit dem Eingreifen in Syrien hat Russland nur demonstriert, dass die Marine „es kann“ – aber es will mehr. 2015 forderte eine Neufassung der Marinedoktrin einen Ausbau zur „Seeemacht“. Zukunftsgerichtete Vorhaben würden die Fähigkeiten zu „ausreichender“ Präsenz in der Arktis und im Atlantik, vor allem aber im Mittelmeer sicherstellen. Mit Blick auf letztere Region soll die Schwarzmeerflotte verstärkt und ihre Infrastruktur ausgebaut werden. Auch diese Doktrin zielt primär noch auf die Randmeere, berücksichtigt vor allem die wachsende Bedeutung der arktischen Küstengewässer. Bezüglich der Weltmeere bleibt sie nur vage: Man werde hier „wo nötig“ operieren (z.B. bei der Bekämpfung von Piraterie).
Einsatz der Marine als Expeditionary Force in einem heimatfernen Konflikt steht hier offensichtlich noch nicht zur Debatte, aber die Ambitionen gehen inzwischen weiter. Im Juli dieses Jahres unterzeichnete Präsident Putin ein neues Dokument zu „Grundlagen der staatlichen Marinepolitik bis 2030“, in dem es heißt, man werde eine überwältigende Überlegenheit fremder Länder (Marinen) nicht hinnehmen. Russlands Marine werde in Fähigkeiten und Kampfkraft den „zweiten Platz“ (also nach der US-Navy, aber vor der chinesischen Marine) anstreben.
Zahlenspiele
Zahlenspiele sollen der eigenen Bevölkerung zeigen, dass man auch schon auf dem besten Wege dorthin ist. So verkündete die Jahresbilanz für 2016 die Indienststellung von „mehr als 80 Kriegsschiffen“. Dass 70 dieser „Kriegsschiffe“ nur kleine Hafenschlepper oder Taucherhilfsboote waren, durfte den „riesigen Fortschritt“ nicht schmälern und wurde denn auch nur am Rande erwähnt.
Solche regelmäßig zum Jahresende und Ende Juli zum „Tag der Seestreitkräfte“ verkündeten Erfolgsmeldungen wecken Erinnerungen an kommunistische Zeiten, als bei solchen Gelegenheiten die Übererfüllung des politisch geforderten Plansolls beschworen wurde. Auf westliche Experten wirken die für die eigene Bevölkerung bestimmten Zahlen lächerlich, erinnern sogar an die berühmten „Potemkinschen Dörfer“.
Sie dürfen allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass tatsächlich eine ganze Serie von neuen Schiffbauprogrammen geplant oder auch schon angelaufen ist. Schwerpunkte liegen dabei zurzeit auf für ozeanische Einsätze geeigneten („blue water capable“) Überwasserkampfschiffen und U‑Booten, die ihren operativen Platz aber auch in Randmeer-Konzepten vor der eigenen Küste finden. Zu ihnen gehören – um nur einige zu nennen – neue Fregatten der ADMIRAL GORSHKOV- und GRIGOROVICH-Klasse, Korvetten der STEREGUSHCHIY‑, BUYAN-M‑, BYKHOV- und KARAKURT-Klasse und U‑Boote der KILO-III-Klasse.
Sie alle verfügen über ausreichende Seeausdauer/-festigkeit, operative Durchsetzungsfähigkeit (modernste Waffensysteme) und können mit Marschflugkörpern Kalibr von See her bis zu 1.500 km entfernte Ziele effektiv angreifen und so auch regional über ihre heimatlichen Randmeere hinauswirken. Mit Priorität werden diese Schiffe zurzeit für Randmeerflotten (vor allem Schwarzmeerflotte, aber auch Baltische Flotte und KaspiSee-Flotille) gebaut, aber auch Nordflotte und Pazifikflotte sollen von den Programmen profitieren. Vorrang haben auch vornehmlich bei der Nordflotte zu stationierende Kampf- und Hilfsschiffe für die Arktis, von denen mehrere Klassen im Bau sind. Schutz der unter dem Klimawandel zunehmend zugänglicheren Polargewässer vor Russlands Nordküste ist aber ebenfalls eher einem Randmeerkonzept zuzuordnen als dem Aufbau einer global operierenden Seemacht.
Bei primär für Operationen in ozeanischen Gebiet ausgelegten Einheiten ist die Lage nicht rosig. Zwar werden neue strategische U‑Boote der BOREJ-Klasse (Erhalt nuklearer Zweitschlagsfähigkeit hat höchste Priorität) und nukleargetriebene U‑Boote der YASEN-Klasse nach und nach in Dienst gestellt, aber bei großen Überwasserkampfschiffen überwiegen noch aus sowjetischen Zeiten stammende „Altlasten“, die durch Einrüstung moderner Waffen (Flugkörper) „zukunftsfähig“ werden sollen. Der Kreuzer „Marshal Ustinov“ (SLAVA-Klasse) ist nach mehrjähriger Modernisierung wieder bei der Nordflotte in Dienst; die begonnene „Wiederbelebung“ das jahrelang aufgelegten Kreuzers „Admiral Nakhimov“ der KIROV-Klasse kommt nur schleppend voran; zurzeit geht man von Wiederindienststellung in 2021 aus.
Teils mehr als 30 Jahre alte Zerstörer der SOVREMENNIY- und UDALOY-Klasse müssen – sofern sie nicht schon aufgelegt sind – als Arbeitspferde für Auslandsreisen („Botschafter in Blau“) und ‑einsätze (Piraterie-Bekämpfung) herhalten. Ihre angekündigte Modernisierung kommt nur sehr schleppend voran. Der einzige – begrenzt zu „Power Projection from the Sea“ taugliche – Flugzeugträger „Admiral Kuznetsov“ steht vor einer mehrjährigen Werftüberholung. In der Marineplanung finden sich zwar neue Zerstörer (LIDER-Klasse) und sogar Flugzeugträger. Mit dem Bau soll aber wohl erst nach Ablauf des derzeitigen, bis 2025 reichenden Schiffbauplanes begonnen werden.
Haupthindernisse auf dem verkündeten Weg zu einer global operierenden Seemacht bleiben neben knappen Budgets und extrem schlechter Zahlungsmoral des Verteidigungsministeriums aber Defizite in der Kriegsschiffbauindustrie. Nahezu alle Kriegsschiffbauprogramme unterliegen großen zeitlichen Verzögerungen. Die Gründe dafür sind vielfältig: Werften sind infrastrukturell heruntergewirtschaftet, und ihr Management gerät wegen Korruption und Unfähigkeit zu realistischer Planung immer wieder in die Schlagzeilen; es mangelt an Qualitätskontrolle; Subunternehmen haben Lieferprobleme. Noch aus Sowjetzeiten stammende Abhängigkeiten zu früheren Republiken wurden nicht beseitigt, und beim nach 1990 möglichen Zugang zu westlichen Systemen wurde auf vielen Gebieten Eigenentwicklung vernachlässigt. Beides rächt sich jetzt nach den im Zuge der Ukraine-Krise verhängten Sanktionen.
Fazit
Russland ist mit seiner Position im UN-Sicherheitsrat, seinen Streitkräften und Atomwaffen ohne jeden Zweifel eine „Supermacht“. Zur See kann es aber trotz aller gegenteiligen politischen Bekundungen dem erklärten Anspruch auf Anerkennung als auch „globale Seemacht“ (noch) nicht gerecht werden. Sicher wird die russische Marine in den kommenden Jahren zunehmend Präsenz auf den Weltmeeren zeigen und verfügt auch über einen Kern dazu geeigneter Kriegsschiffe, wie z.B. den Kreuzer „Petr Velikiy“ – mit dessen Namensgebung sich der Kreis zu Zar Peter I. schließt.
Keine der vier Flotten ist heute allerdings in der Lage, fernab der Heimatgewässer unter Kriegsbedingungen mit realer Bedrohung autark und durchsetzungsfähig längere Einsätze durchzuführen. Ohne jegliches Konzept und Mittel für „Sea Basing“ kann der Marine „Power Projection“ nur im Einzelfall bei Abstützung auf ein Gastland und selbst dann auch nur räumlich begrenzt möglich sein. Dies mag sich ab Mitte der 2020er Jahre ändern. Zurzeit sind die Ozeane für die russischen Streitkräfte unverändert wenig mehr als Teil einer bedarfsweise über die Randmeere hinaus vorgeschobenen Heimatverteidigung – und hier wird sich absehbar auch weiterhin der Hauptauftrag der russischen Marine finden. Selbst wenn die Operationsgebiete der Flotten von Europa bis Ostasien reichen und damit globale Entfernungen umspannen: Russland wird sich vorerst mit dem Status einer global zur See fahrenden und dabei ggf. durch bloße Präsenz Akzente setzenden Randmeermarine begnügen müssen.