Afghanistan: Taliban – islamistische Steinzeitkrieger?

Stand: 21.08.2021
Derzeit sind die „Tal­iban“ wieder im Fokus der Welt. Sie wer­den gerne als „Islamis­ten“ und „anal­pha­betis­che Steinzeitkrieger“ beze­ich­net – aber: greift das nicht etwas kurz für eine Grup­pierung, die nach zehn Jahren die sow­jetis­chen und nach zwanzig Jahren die US-Amerikanisch geführten NATO-Ein­heit­en aus Afghanistan ver­trieben hat?

Zu den the­ol­o­gis­chen Wurzeln 1):
Die Tal­iban entstam­men let­ztlich ein­er beson­ders kon­ser­v­a­tiv­en Strö­mung des sun­ni­tis­chen Islam. His­torisch gese­hen geht diese Strö­mung auf eine Reak­tion indis­ch­er Mus­lime auf die Kolo­nial­herrschaft der Briten zurück. In Reak­tion auf die blutige Unter­drück­ung eines Auf­s­tandes wurde 1866 im indis­chen Deoband eine streng kon­ser­v­a­tive islamis­che Hochschule gegrün­det. Diese the­ol­o­gis­che Hochschule gilt heute – neben der Al-Azhar-Uni­ver­sität von Kairo – als eine der wichtig­sten Lehrin­sti­tute des sun­ni­tis­chen Islam. Der Kern der dort vertrete­nen Lehre war die weit ver­bre­it­ete Auf­fas­sung, die seit dem Mit­te­lal­ter ein­tre­tende Schwächung der islamis­chen Staat­en gegenüber den europäis­chen Kolo­nialmächt­en sei auf die Abkehr von den islamis­chen Geset­zen zurück zu führen. Die Befol­gung der reinen Lehre – des Koran wie auch der Über­liefer­un­gen (hadithe) von Worten und Tat­en Mohammeds und der islamis­chen Geset­ze (Scharia) würde diese Unter­legen­heit beseit­i­gen. Grund­lage poli­tis­chen Han­delns, gesellschaftlichen Lebens und wirtschaftlichen Wirkens muss diesem Ver­ständ­nis nach einzig und allein die islamis­che Tra­di­tion. Der Grund­kon­flikt ist auch in unseren säku­laren Staat­en immer noch vorhan­den. Sollen poli­tis­che Entschei­dun­gen auf der ethisch-moralis­chen Grund­lage eines religiösen Beken­nt­niss­es erfol­gen – oder sind Staat und (christliche) Reli­gion­s­ge­mein­schaften voll­ständig voneinan­der zu tren­nen? Auch in der Türkei beansprucht die islamis­che The­olo­gie die vor­rangige Regelung des Umgangs der Men­schen untere­inan­der – während gle­ichzeit­ig der Staat als Nach­fol­ger der osman­is­chen Sul­tane die Ober­ho­heit über den Islam uns seine Repräsen­tan­ten in Anspruch nimmt.

Der streng dog­ma­tis­che oder for­mal­is­tis­che Ansatz der Deoband-Hochschule ver­bi­etet Erschei­n­un­gen der Volks­fröm­migkeit wie Heili­gen­verehrung, bildliche Darstel­lun­gen, Musik und Tanz. In diesem Ansatz kann dann auch die Begrün­dung für die Zer­störung eines Weltkul­turerbes – der über­lebens­großen bud­dhis­tis­chen Stat­uen in Afghanistan – gese­hen wer­den. Dieser puri­tanisch restrek­tive Ansatz strahlte aus – auf Sau­di Ara­bi­en, wo mit den Wahabiten die strenge Isla­mausle­gung zur nationalen Staat­sre­li­gion wurde, auf das spätere Pak­istan mit seinen islamis­chen Schulen und über das – bei­d­seit­ig der Gren­ze leben­den Volk der Paschtunen – auch auf das heutige Afghanistan. Genau­so wie früher in Sau­di-Ara­bi­en oder heute noch in Nordafri­ka wer­den Gräber von islamis­chen Heili­gen zer­stört, wird eine strenge Geschlechtertren­nung, Ver­schleierung und Ein­schränkung der Bewe­gungs­frei­heit von Frauen (und deren teu­flis­ch­er Ver­führung) durchge­führt. „Von Salafis­ten und saud­is­chen Wah­habiten, den langjähri­gen Unter­stützern der Tal­iban, unter­schei­den die Deoban­dis let­ztlich nur Nuan­cen“ schreibt das Dom­ra­dio und führt aus: “Neben Chris­ten und Hin­dus gel­ten auch Schi­iten und Ahmadis als Ungläu­bige, obwohl sie sich selb­st als Mus­lime sehen.“ Damit ist zugle­ich der Kern der inner­is­lamis­chen Frontlin­ie markiert. Wahabitis­che, streng fun­da­men­tal­is­tisch geprägte Saud­is gegen den schi­itis­chen Iran – Paschtunen in Afghanistan gegen die schi­itis­chen Haz­ara, die nicht nur religiös son­dern auch eth­nisch den Persern und Tad­schiken zugehören.

Der „Siegeszug“ der Tal­iban, der Koran­schüler in Afghanistan begann in den 1980er Jahren, als die pak­istanis­che Deoban­di-Schule für afghanis­che Flüchtlinge und Wider­stand­skämpfer gegen die sow­jetis­che Beset­zung des Lan­des – über­wiegend aus den paschtunis­chen Stammes­ge­bi­eten wie dem südafghanis­chen Kan­da­har – flächen­deck­ende Koran­schulen errichtete. Etwa zwei Drit­tel der pak­istanis­chen Koran­schulen wer­den von Absol­ven­ten der Deoband-Hochschule geleit­et. Das erk­lärt die enge Verbindung Pak­istans zu den in den pak­istanis­chen Koran­schulen aus­ge­bilde­ten Tal­iban, die bis in die höch­sten Regierungskreise des Lan­des und in den pak­istanis­chen Geheim­di­enst reicht. „Die Überzeu­gung dieser Muja­hedin ist die wah­habitis­che Ide­olo­gie, die aus Sau­di Ara­bi­en kam. Und sie genossen auch große Unter­stützung des Saud­is im Hin­ter­grund, der Amerikan­er mit vie­len Waf­fen damals. Vie­len Übungslagern auch und somit haben sie den Krieg gewon­nen gegen die Sow­je­tu­nion“ 2). In Kom­bi­na­tion mit dem paschtunis­chen Ehren- oder Ver­hal­tenskodex, dem „Paschtun­wal­li“, ent­stand die Bewe­gung, die (zunächst von den USA unter­stützt) die Nieder­lage der sow­jetis­chen Trup­pen ein­leit­ete, später aber auch zum Wider­standskern gegen die west­liche Besatzung Afghanistans und deren frei­heitlich demokratis­che Wer­te­ord­nung wer­den sollte.

Ab etwa 1994 fan­den sich saud­is­che Finanziers, pak­istanis­che Waf­fen­liefer­un­gen und amerikanis­che Instruk­teure zu ein­er „unheili­gen Allianz“ zusam­men, um die von der Sow­je­tu­nion gestützte „säku­lare“ afghanis­che Regierung zu stürzen, Milizen ander­er eth­nis­ch­er Grup­pierun­gen in Afghanistan zu bekämpfen und let­z­tendlich – im Sep­tem­ber 1996 – die Macht in Kab­ul zu übernehmen und einen „islamis­chen Staat“ auf der Grund­lage der islamis­chen Lehre und der Scharia ins Leben zu rufen. Pak­istan, Sau­di-Ara­bi­en und die Vere­inigten Ara­bis­chen Emi­rate erkan­nten das neu gebildete Emi­rat an. Beze­ich­nen­der­weise – denn die ide­ol­o­gis­che Grund­lage dieses neu gegrün­de­ten islamis­chen Emi­rates unter­schei­det sich nur min­i­mal von den in den genan­nten Staat­en ver­bre­it­eten islamis­chen Traditionen.

Nach der Zer­schla­gung des Emi­rates gelang es den Alli­ierten nicht, ein zukun­ft­strächtiges Staatswe­sen aufzubauen. Eth­nis­che Rival­itäten, Kor­rup­tion und weit­er­er Ter­ror sowie die aufrecht erhal­tene Armut der ländlichen Bevölkerung führte dem islamisch-paschtunis­chen Wider­stand über die Jahrzehnte hin neue Kämpfer zu. Die staatliche Elite erschöpfte sich bis zulet­zt darin, möglichst viel von den Mil­liar­den der inter­na­tionalen Hil­fe für die eige­nen Kassen abzuzweigen. So wurde der Usbeke Abdul Raschid Dos­tum 2005 zum Armeestab­schef ernan­nt. Die Tal­iban waren aber „nie weg“. Sie waren ins­beson­dere in den paschtunis­chen Stammes­ge­bi­eten weit­er­hin als Unter­stützer der Imame präsent und respek­tiert – und im Gegen­satz zu den Vertretern der Zen­tral­regierung auch nicht auf die Aus­plün­derung und Unter­drück­ung der ländlichen Bevölkerung aus.

Der 2021 erfol­gte „plöt­zliche Vor­marsch“ der Tal­iban in Afghanistan erweist sich bei näherem Blick als nicht so plöt­zlich, wie es erscheint.
Bere­its der Abzug der ersten sow­jetis­chen Ein­heit­en im Som­mer 1988 führte dazu, dass sich in kürzester Zeit Kun­duz und die Prov­inzen Pak­tia und Bami­an unter der Herrschaft der Wider­stand­skämpfer befan­den. Nach diesem Muster erfol­gte nun auch die Machtüber­nahme durch die Tal­iban. Mit der Anfang 2020 getrof­fe­nen Vere­in­barung zwis­chen der US-Regierung unter Trump und Vertretern der Tal­iban zum Rück­zug der US-Trup­pen war der Weg für die Unter­grund­kämpfer geeb­net. Sie sick­erten zunehmend in die noch von den Alli­ierten kon­trol­lierten Regio­nen ein. Es war kein „klas­sis­ch­er Vor­marsch“ der Tal­ibankämpfer, als eine Region nach der anderen von den „Koran­schülern“ über­nom­men wurde.

Mit den US-Trup­pen ver­ließen dann auch die Instand­set­zungstrup­ps für die afghanis­che Luft­waffe die Basen, so dass die Luftun­ter­stützung der Boden­trup­pen nicht mehr erfol­gen kon­nte. Die „im Stich gelasse­nen“ Regierung­sein­heit­en 3), die bere­its vorher unter „abgezweigter Aus­rüs­tung und fehlen­der Sol­dzahlung“ zu lei­den hat­ten, lösten sich regel­recht auf. Die vorher bere­its in großer Zahl ein­gesick­erten Tal­iban braucht­en nur ihre Fah­nen und Waf­fen aus den Ver­steck­en zu holen und durch ihre Präsenz auf den Straßen die Macht zu übernehmen.

Tal­iban – Al Quai­da und IS 4):
Während die Tal­iban zunächst mehrheitlich als Miliz der heimis­chen Paschtunen gel­ten kön­nen fan­den sich schon früh Unter­stützer aus anderen Staat­en ein. Ein­er dieser Unter­stützer war der wahabitisch geprägte Osama Bin Laden. Der Spross ein­er ver­mö­gen­den saud­is­chen Fam­i­lie grün­dete 1988 in Peshawar (Pak­istan) die „islamis­che Inter­na­tionale“ gegen die „Feinde Gottes“, zu denen nicht nur die „got­t­losen Sow­jets“ son­dern auch die säku­laren, am „Mam­mon“ ori­en­tierten west­lichen Staat­en um die USA und Israel gehören. Wenn schon die Schi­iten als „Ungläu­bige“ abgestem­pelt wer­den, dann gilt das erst recht für Chris­ten und Juden, die nach islamis­chem Ver­ständ­nis vom „recht­en Weg“, der richti­gen Lebensweise abgewichen sind. Die dort entwick­elte säku­lare Gesellschaft­sor­d­nung sei eine „gottes­läster­liche Anmaßung“, die den Men­schen über seinen Schöpfer stellt. The­ol­o­gis­ch­er „spir­i­tus rec­tor“ war der ägyp­tis­che Fun­da­men­talthe­ologe und Mus­lim­brud­er Sayyid Qutb (1906 — 1966 hin­gerichtet), der gegenüber der säku­lar ori­en­tierten „Pan-ara­bis­chen“ Regierung Ägyptens (Nass­er) den Islam als gottge­wollte Grund­lage des gottge­fäl­li­gen Herrschens nicht nur in ara­bis­chen Län­dern ver­trat. Die „freie Ent­fal­tung der Per­sön­lichkeit“ hat dem­nach dort ihre Gren­zen, wo das „göt­tliche Gesetz“, also Koran, Über­liefer­ung, Scharia, die Gren­zen set­zen. Das bein­hal­tet, dass die „Frau dem Manne unter­tan“ sei, dass junge Mäd­chen und Witwen zur Ver­sorgung zwangsweise ver­heiratet wer­den, dass auch für „moralis­ches“ für Fehlver­hal­ten drakonis­che Strafen – vom Aus­peitschen bis zur öffentlichen Hin­rich­tung – ver­hängt werden.

Al-Kai­da ist nun nicht mehr die Miliz eines Stammes, son­dern die inter­na­tion­al zusam­menge­set­zte Kampftruppe für einen streng dog­ma­tis­chen Islam. Mit Bombe­nan­schlä­gen vor der US-Botschaft in Nairo­bi und Dares­salam (August 1998) wurde der Kampf der Al-Kai­da-Getreuen eröffnet, und mit dem Anschlag auf das World-Trade-Cen­ter in New York (11.09.2001) zugle­ich ein sym­bol­is­ches Fanal geset­zt. Schon wenige Tage später wurde Bin Laden als Hauptver­ant­wortlich­er der Anschläge iden­ti­fiziert, und von der Regierung in Afghanistan seine Aus­liefer­ung an die USA gefordert. Das aber stand im Gegen­satz zum paschtunis­chen Ehrenkodex, der dem Gast­ge­ber (hier also den Afgha­nen) den Schutz des Gastes (hier Bin Ladens) abforderte. Die von den Paschtunen geforderten Nach­weise für die Urhe­ber­schaft der Ter­ro­ran­schläge und den Miss­brauch des Gas­trechts durch Bin Laden kon­nten oder woll­ten die USA wieder nicht führen – denn nach west­lichem Ver­ständ­nis ist vor einem Schuld­spruch erst die Durch­führung eines (ordentlichen) Gerichtsver­fahrens erforder­lich, indem der Beschuldigte die faire Möglichkeit zu sein­er Vertei­di­gung hat. Ein solch­es Ver­fahren war aber wegen der ver­weigerten Aus­liefer­ung des Beschuldigten ger­ade nicht möglich. In dieser Sit­u­a­tion erfol­gte die Beschlussfas­sung der UN, die den USA mit der Res­o­lu­tion 1368 aus­drück­lich das Recht zur Selb­stvertei­di­gung gegen Ter­ro­ran­schläge zus­prach und let­z­tendlich in den Ein­marsch der USA und ihrer Ver­bün­de­ten (Aus­ru­fung des „Bünd­nis­fall­es“ durch die NATO) in Afghanistan mün­dete. Bere­its am 7.10.2001 begann der Angriff auf afghanis­che Ziele, am 13.11.2001 wurde Kab­ul kampf­los über­nom­men, am 07.12.2001 die paschtunis­che Stadt Kan­da­har ein­genom­men. Dann allerd­ings ging über die Jahre hin alles schief, was schief gehen kann. Anstatt „von unten begin­nend“ demokratis­che Struk­turen zu ver­ankern, wur­den die afghanis­chen Kriegsh­er­ren – deren Herrschafts­bere­ich sich allen­falls auf eth­nisch geprägte Regio­nen beschränk­te, wie der Usbeken­führer Raschid Dos­tum und der Tad­schike Mohammed Fahim an die Macht gebracht – Milizen­führer, die vorher für ihre grausame Kriegs­führung bekan­nt waren, und nun vor allem darum bemüht waren, die afghanis­chen Staat­stöpfe zu plün­dern und sich und ihre Anhänger­schaft zu bere­ich­ern. Während die „neuen Machthaber“ die Anwe­sen­heit der Alli­ierten nutzten, um Geg­n­er als „Tal­iban“ zu beze­ich­nen und deren Ver­nich­tung durch Alli­ierte zu provozieren, zogen sich die paschtunis­chen Koran­schüler in ihre Heimat­ge­bi­ete zurück 5). Auch die inter­na­tion­al zusam­men geset­zte Ter­rortruppe um Bin Laden set­zte sich ab – in die Unter­schlupfmöglichkeit­en nach Pak­istan, aber auch in andere Län­der, um dort den „Kampf gegen die Ungläu­bi­gen“ fort zu führen.

Die Ter­ror­gruppe „Islamis­ch­er Staat“ (IS) ist aus dem nationalen, irakischen Ableger von Al-Kai­da ent­standen. Die nach dem Sturz von Sad­dam Hus­sein zurück gedrängten sun­ni­tis­chen Offiziere fan­den sich nach dem Ein­marsch der Alli­ierten in einem Macht­vaku­um oder unter dem Kura­tel der jahre­lang unter­drück­ten schi­itis­chen Bevölkerungs­gruppe wieder. Aus dem Kriegs­geg­n­er Iran war nun plöt­zlich ein stiller Ver­bün­de­ter der neuen Regierung gewor­den. Die mil­itärische Nieder­lage des IS in Syrien und im Irak führte nicht zum Ver­schwinden der Ide­olo­gie – im Gegen­teil: die fanatis­chen Anhänger „ver­steck­ten“ sich lediglich im Unter­grund. Ein­heimis­che „Schläferzellen“ waren und sind für Anschläge motivier­bar. Und jed­er Anschlag führt dazu, dass Gelder anstatt in den Wieder­auf­bau zu fliesen zunächst ein­mal für die Sicher­heit aus­gegeben wer­den. Aus­ländis­che Stre­itkräfte igeln sich hin­ter Bar­ri­eren ein, kon­trol­lieren mar­tialisch das Umfeld – und erscheinen so als Besatzungstrup­pen und nicht als Befreier. Der „inter­na­tionale“ Teil der Kämpfer zog sich zudem in nicht bedro­hte Rück­zugs­ge­bi­ete, auch in die Heimat­staat­en der Beteiligten zurück.

Wie geht es weit­er in Afghanistan?
Jede gewalt­same Machtüber­nahme löst mas­sive Äng­ste aus. Daraus fol­gt dann der Impuls zur Flucht. Jede Per­son, die Äng­ste hat – vor wirtschaftlichen Ein­bußen bis hin zur konkreten Gefahr durch Folter und Tod – wird danach tra­cht­en, diesen Bedro­hun­gen zu ent­fliehen: „Etwas besseres als den Tod find­est du alle­mal“. Und gefährdet sind auch all jene Ort­skräfte, die in den ver­gan­genen 20 Jahren für alli­ierte Organ­i­sa­tio­nen (wie die Bun­deswehr oder die Deutsche Gesellschaft für Inter­na­tionale Zusam­me­nar­beit — GIZ) gear­beit­et haben – als Aufk­lär­er oder Dol­metsch­er, als Köche oder Fahrer. Diesen Men­schen und ihren Ange­höri­gen zu helfen ist nicht nur eine Frage des Charak­ters. Die Ort­skräfte heute ihrem Schick­sal zu über­lassen bedeutet zugle­ich eine abschreck­ende schwere Hypothek für kün­ftiges Engage­ment in schwieri­gen Gemengelagen.

Die Flucht von Tausenden über den let­zten „offe­nen“ Flughafen in Kab­ul kön­nen wir dank der Medi­en­präsenz aktuell ver­fol­gen. Dazu kommt die Flucht über die Lan­des­gren­zen. Dabei wer­den eth­nisch und/oder religiös gefährdete Men­schen ganz natür­lich da Zuflucht suchen, wo die näch­sten Ange­höri­gen der jew­eili­gen Eth­nie und/oder Reli­gion behei­matet sind. Schon in der Ver­gan­gen­heit haben usbekische Milizionäre in Usbek­istan, tad­schikische „War­lords“ und die schi­itis­chen Haz­ara im Iran ihre Zuflucht gesucht – und gefun­den. Diese Flüchtlinge bilde­ten dann zugle­ich die Kern­truppe der iranisch geführten Milizen, die in Syrien gegen das Ter­ror­regime des IS einge­set­zt wur­den. So gedrillte Milizionäre kön­nten dann auch den Kern von eth­nis­chen Milizen bilden, die den paschtunisch geprägten Tal­iban die Herrschaft stre­it­ig machen könnten.

Es wird sich nun zeigen, inwieweit es den Tal­iban gelingt, die eth­nis­chen Span­nun­gen zu über­winden, eine funk­tion­ierende Koali­tion­sregierung zu bilden und zugle­ich gute Beziehun­gen zu den Nach­barstaat­en aufzubauen. Dazu kön­nten die inter­essierten Nach­barstaat­en etwa anbi­eten, die Tal­iban bei der Wartung des von den Alli­ierten zurück gelasse­nen mil­itärischen Mate­ri­als zu unter­stützen und dieses ein­satzfähig zu hal­ten. Ins­beson­dere Chi­na und der Iran, aber auch Pak­istan 6), dürften zudem großes Inter­esse daran haben, die fliegen­den Kom­po­nen­ten des Arse­nals – von Drohnen über Hub­schrauber bis zu Erd­kampf­flugzeu­gen – zumin­d­est zu unter­suchen und ggf. auch in die eige­nen Ein­heit­en zu über­führen. Ein „Pfund“ der Tal­iban kön­nte der Tad­schike Moham­mad Ismail Khan sein, der vor­ma­lige Gou­verneur und „Löwe von Her­at“, der beste Kon­tak­te in den Iran hat und sich seit dem Fall der an den Iran angren­zen­den Prov­inz und einem ver­späteten Fluchtver­such Mitte August 2021 „im respek­tvollen Gewahrsam“ der Tal­iban befindet.

Die regionalen Mächte wer­den aber ins­beson­dere beim Scheit­ern ein­er friedlichen Machtüber­nahme auch ver­suchen, die mehr oder weniger guten Kon­tak­te zu nahe ste­hen­den afghanis­chen Grup­pen weit­er auszubauen.

Sau­di Ara­bi­en und Pak­istan ver­fü­gen über eine starke ide­ol­o­gisch-religiöse Verbindung zu den paschtunis­chen Tal­iban und sind dabei, im Nor­den und Osten Afghanistans weit­ere Dschi­hadis­ten­grup­pen aufzurüsten – darunter auch Vertreter des „Islamis­chen Staates“ und eine „Armee Mohammeds“. Pak­istan will Afghanistan als sicheres Hin­ter­land erhal­ten und set­zt dabei auf die Ruhig­stel­lung der bei­d­seit­ig der Gren­ze leben­den Paschtunen als regionale Ver­bün­dete. Dabei kann Pak­istan auch auf die Verbindun­gen zu den Führern der Tal­iban zählen, die sich dem Vernehmen nach im pak­istanis­chen Quet­ta (Belutschis­tan) unter dem Schutz des pak­istanis­chen Geheim­di­en­stes auf die Machtüber­nahme vor­bere­it­et haben. Auf­grund der engen Verbindung zwis­chen Pak­istan und Chi­na wird auch Chi­na ver­suchen, diese Kon­tak­te zu nutzen und die afghanis­chen Boden­schätze für sich nutzbar zu machen – selb­st aber keinen Ein­fluss auf die inner­staatlichen Kon­flik­te nehmen son­dern sich größt­möglich „her­aus hal­ten“. Und auch Rus­s­land – nicht mehr mit dem Ruch der „kom­mu­nis­tis­chen Got­t­losigkeit“ behaftet – bemüht sich, eine „wohlwol­lende Neu­tral­ität“ gegenüber den Tal­iban aufrecht zu erhalten.

Indi­en, das in Tad­schik­istan einen Mil­itärstützpunkt unter­hält, und der Iran scheinen zu den Ver­lier­ern des US-Rück­zugs zu gehören. Bei­de wer­den ver­suchen, ein Gegengewicht zu Pak­istan und Chi­na zu bilden – und dabei wohl ins­beson­dere die per­sisch sprachi­gen Eth­nien in Afghanistan – Tad­schiken und schi­itis­che Haz­ara – unter­stützen. Wenn es den Tal­iban nicht gelin­gen sollte, alle Eth­nien (und nicht nur einzelne kor­rupte War­lords) zufrieden­stel­lend in die Staats­führung einzu­binden (was dur­chaus einen „Sprung über den eige­nen Schat­ten“ ver­langt) wer­den die eth­nis­chen Rival­itäten erneut auf­brechen. Der ehe­ma­lige Vizepräsi­dent Amrul­lah Saleh, ein Tad­schike, hat sich schon mit Ahmed Mas­sud, dem Sohn des „Löwen vom Pand­schir-Tal“, dem Tad­schiken Ahmed Schah Mas­sud in das tad­schikisch besiedelte Tal nordöstlich von Kab­ul zurück gezo­gen, um dort die tad­schikischen Ein­heit­en der in Auflö­sung befind­lichen afghanis­chen Armee zu sam­meln und den Wider­stand gegen die paschtunis­chen Tal­iban zu organisieren.

Und im Nor­den des Lan­des wartet der Usbeke Dos­tum im usbekischen Exil mit sein­er Pri­vatarmee auf seine Chance, die eth­nisch usbekischen Gebi­ete – möglicher­weise mit Unter­stützung der Türkei – wieder unter seine Kon­trolle zu bringen.

Wenn das geschieht ist abse­hbar, dass Afghanistan als Staat ent­lang sein­er eth­nis­chen Gren­zen zerbricht.

———-

1) Vgl. dazu im Wesentlichen das Dom­ra­dio (Köln) Die religiösen Wurzeln der Tal­iban | DOMRADIO.DE — Katholis­che Nachricht­en https://www.domradio.de/themen/islam-und-kirche/2021–08-19/kein-steinzeit-islam-die-religioesen-wurzeln-der-taliban

2) Zitiert nach Prof. Dr. Mouhanad Khorchide, dem Leit­er des Zen­trums für islamis­che The­olo­gie, Mün­ster, Inter­view vom 20.08.2021 im „DOMRADIO.DE — Katholis­che Nachricht­en“ https://www.domradio.de/themen/interreligi%C3%B6ser-dialog/2021–08-20/nicht-aus-ueberzeugung-islamischer-theologe-khorchide-erwartet-maessigung-der-taliban

3) Tagess­chau vom 20.08.201: Petraeus zu afghanis­ch­er Armee: “Sie hat­ten plöt­zlich keine Rück­endeck­ung mehr” | tagesschau.de https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/usa-afghanistan-armee-petraeus-101.html

4) Vgl. dazu ins­beson­dere den Tagess­chau-Bericht: Radikale Islamis­ten: Was Tal­iban, IS und Al-Kai­da tren­nt | tagesschau.de
https://www.tagesschau.de/ausland/asien/taliban-alkaida-is-101.html

5) Vgl. die aus­führliche Schilderung im Spiegel Nr. 14 v. 21.08.2021, S. 12 f

6) 22 Kampf­flugzeuge und 24 Mil­itärhub­schrauber mit 585 Sol­dat­en an Bord sollen alleine Mitte August aus Afghanistan ins benach­barte Usbek­istan geflo­hen sein. Auch Tad­schik­istan meldete, afghanis­che Sol­dat­en seien per Flugzeug über die Gren­ze gekom­men berichtet die Tagess­chau: Eroberung Afghanistans: Warum es die Tal­iban so leicht hat­ten | tagesschau.de.

Kurz­fas­sung
Afghanistan: Taliban – islamistische Steinzeitkrieger?
Artikelüber­schrift
Afghanistan: Tal­iban – islamistis­che Steinzeitkrieger?
Erk­lärung
Derzeit sind die „Tal­iban“ wieder im Fokus der Welt. Sie wer­den gerne als „Islamis­ten“ und „anal­pha­betis­che Steinzeitkrieger“ beze­ich­net – aber: greift das nicht etwas kurz für eine Grup­pierung, die nach zehn Jahren die sow­jetis­chen und nach zwanzig Jahren die US-Amerikanisch geführten NATO-Ein­heit­en aus Afghanistan ver­trieben hat?
Autor
Her­aus­ge­ber Name
GlobalDefence.net
Her­aus­ge­ber Logo