FOCUS: “Steht uns eine neue Weltordnung mit den Supermächten USA und China bevor?”
Genscher: “Nein, es wird eine multipolare Weltordnung sein, in der große Staaten eine erhebliche Rolle spielen, natürlich die USA, aber auch Russland, Japan, Indien, China, Brasilien. Es wird zudem Kraftzentren neuer Art geben, nämlich regionale Zusammenschlüsse wie die Europäische Union oder die ASEAN-Staaten.”
(der ehemalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher im FOCUS-Interview, 22.05.2006)
Der Investmentbanker Meryll Lynch veröffentlichte im November 2006 eine Studie, die das wirtschaftliche Potential der Schwellenländer aufzeigt. Diese erstrecken sich über 75 Prozent der Landflächen, beherbergen 80 % der Weltbevölkerung und erwirtschaften gut 50 % des weltweiten Bruttoinlandsprodukts (BIP). Sie verfügen über 70 % der weltweiten Devisenreserven und einen Leistungsüberschuss von 700 Mrd. Dollar, dem ein Defizit der etablierten Industrieländer — angeführt von den USA — in gleicher Höhe gegenüber steht. Die Schwellenländer werden immer weniger krisenanfällig und haben das Potential, wieder — wie bis zum Jahr 1820 — rund 80 % des weltweiten BIPs zu erwirtschaften.
Es zeichnet sich eine neue Machtverteilung ab:
im Jahre 2005 erwirtschafteten 297 Mio. US-Bürger ein BIP von 12,3 Billionen $
im Jahre 2005 erwirtschafteten 397 Mio. Westeuropäer ein BIP von 11,8 Billionen $
im Jahre 2005 erwirschafteten 1.316 Mio. Chinesen ein BIP von 9,4 Billionen $
im Jahre 2005 erwirtschafteten 1.087 Mio. Inder ein BIP von 3,6 Billionen $
im Jahre 2005 erwirtschafteten 144 Mio. Russen ein BIP von 1,6 Billionen $
im Jahre 2005 erwirtschafteten 176 Mio. Brasilianer ein BIP von 573 Mrd. $ und
im Jahre 2005 erwirtschafteten 128 Mio. Japaner ein BIP von 3,9 Billionen $
Heute (Stand: Okt. 2007) teilt sich die Wirtschaftskraft der von Genscher genannten Staaten wie folgt auf:
Brazil 966.8 Mrd $
Britain 2357,6 Mrd $
China 2554,2 Mrd $
Euro Zone 10445,5 Mrd $
Germany 2890,1 Mrd $
India 854,5 Mrd $
Japan 4463,6 Mrd $
Russia 975,3 Mrd $
USA 13262,1 Mrd $
Aus: IHT print, Seite 17 Global Economy watch
sources: Bloomberg, IMF local government agencies
Tatsächlich repräsentieren die nach ihren Angangsbuchtstaben so genannten “BRIC-Staaten” (Brasilien, Russland, Indien und China) mehr als 40 Prozent der Weltbevölkerung und beherrschen fast ein Drittel der Landmasse der Erde — und wenn es diesen Ländern gelingt, ihre wirtschaftlichen Entwicklungsprobleme “im Griff zu halten”, politisch stabil zu bleiben und den Wohlstand und damit die Kaufkraft der Bevölkerung zu mehren, dann werden diese Länder — heute vielfach als “Schwellenländer” bezeichnet — im globalen Wirtschaftsaustausch und in der Weltpolitik künftig eine zunehmend bedeutendere Rolle spielen.
Dabei ergänzen sich die Volkswirtschaften dieser Staaten gegenseitig. Brasilien und Russland liefern Rohstoffe und Technologie, Indien steht für High tech — und China für die Werkbank. Ergänzt mit anderen Staaten können diese Staaten einen Wirtschaftskreislauf in Gang halten, der ohne die etablierten westlichen Industriestaaten auskommt. So gibt es enge Verbindungen zwischen China, Iran, Venezuela und Russland (wie bilaterale Investmentfonds), um — wie RIA Novosti (Venezuela und Iran schließen Pakt gegen US-Imperialimus — mit Russland?) berichtet — die jeweiligen Regierungen “von der von ihr gehassten Notwendigkeit befreien, den marktwirtschaftlichen Spielregeln zu folgen. Damit würde die .… Wirtschaft nicht von der Weltkonjunktur, sondern von konkreten Investoren abhängig gemacht.” Die bisher eher auf Populismus ausgerichtete Show gewinne immer greifbarer an wirtschaftlicher Bedeutung. Vor allem sei dies eine Reaktion auf die amerikanische Außenpolitik: “Den Ländern, die potentiell zur „Achse des Bösen“ gezählt werden und die zu „demokratisieren“ sind, bleibt nichts Anderes übrig als sich zusammenzuschließen.”
Dabei scheint gerade die wirtschaftliche Entwicklung Chinas den Theorien vom Zusammenhang marktwirtschaftlicher Entwicklung und Demokratisierung zu widersprechen. China funktioniert wirtschaftlich wie ein gigantischer Staatskonzern. Vorstand und Aufsichtsrat sitzen als Regierung in Peking, und die untergeordneten Ebenen haben bei der Umsetzung der Direktiven aus der Zentrale realtiv große Handlungsspielräume. Dieser Weg scheint gerade für weniger entwickelte Länder ungeahnte Erfolge zu bringen.
Chinas BIP wuchs seit 1976 in jeder Dekade real um mehr als 100 %, mit einem Spitzenwert von 140 % (1986 bis 1995) und einer leichten Abflachung auf 131 % (1996 bis 2005).
Indien, der zweite asiatische “Newcomer” legt ständig steigende Wachstumsraten auf das Parkett, zuletzt mit 76 % (1996 bis 2005 — und 61 % in der vorhergehenden Dekade) immer noch Spitzenwerte, die jedem amerikansichen und europäischen Politiker als “Traum” erscheinen.
Russland erreichte von Januar bis September 2006 eine BIP-Steigerung von 6,5 Prozent gegenüber dem Vorjahrszeitraum und kann sich damit in die Riege der asiatischen Spitzenreiter einreihen.
Steigende Devisenreserven in den Schwellenländern:
Der Wirtschaftsaufschwung der Schwellenländer wirkt sich auch in steigenden Exporten (China) und Dienstleistungen (Indien) aus — und spült immer mehr Geld in die Kassen dieser Länder. Inzwischen horten die Schwellenländer knapp 3/4 aller Devisenreserven weltweit.
Chinas Devisenreserven sind vom Jahr 2000 (168 Mrd. $) an stetig innerhalb von gut 5 Jahren auf 925 Mrd. $ (Mai 2006) gestiegen. Japan (843 Mrd. $), und erst recht die alten Wirtschaftsmächte wie die Euro-Staaten (173 Mrd. $) und die USA (41 Mrd. $) sind abgeschlagen, was die Mächtigkeit zu Investitionen in Drittländern betrifft — und damit die Möglichkeit, sich Rohstoffquellen zu erschließen.
Geldanlage nicht mehr im US-$:
Wie wir in unserem USA-Dossier ausgeführt haben, ist inzwischen das “Ende des Dollar-Jahrhunderts” gekommen. Während früher in Krisenzeiten der US-Dollar gehortet wurde ist seit Sommer 2006 eine umgedrehte Wanderungsbewegung festzustellen. Das internationale Kapital verlässt die USA. Investitionen und Geldanlagen (privates Beteilungskapital der “private euitiy” ‑Fonds) werden zunehmend in den boomenden Schwellenländern mit ihren stark wachsenden Märkten vorgenommen, die eine wesentlich bessere Verzinsung des Anlagekapitals und eine sicherere Geldanlage versprechen. So tritt der Euro zunehmend — wenn auch in kleinen Schritten — an die Stelle des US-$, auch bei Geschäften mit Öl und Gas. Russland geht sogar so weit, eine Verrechnung in Rubel zu überlegen — misst der eigenen Währung also mehr Stabilität zu als dem US-$.
Die Devisenzuwächse der Schwellenländer werden nicht mehr in $-Anleihen angelegt, mit denen die USA ihre “Wirtschaft auf pump” finanzierten. Stattdessen fließt das Kapital in den Euro-Raum, was auch aufgrund der steigenden Kurswerte dieser Währung einen zusätzlichen Gewinneffekt verspricht. So setzt die russische Zentralbank beim Aufbau ihrer Devisenreserven verstäkrt auf den Euro. Chinas Staatsbank ist sogar noch weiter gegangen. Nicht nur Devisenzuwächse werden nicht mehr in Dollar angelegt — im August 2007 haben Chinas Staatsbanker (erstmals in der Geschichte) US-Staatsanleihen verkauft, in der Größenordnung von 14 Mrd. $. Manche Kommentatoren sprechen sogar davon, dass “Kapital aus den USA floh” (Nikolaus Piper, Süddeutsche Zeitung, 3.11.2007 S. 4). Der Euro macht heute (2007) schon etwa ein Viertel der internationalen Währungsreserven aus. Vorreiter für diesen Umschwung sind die reichen Golfländer. In Quater ist der Dollarbestand im Devisentopf auf magere 40 % reduziert worden (Stand 2007).
Innerhalb eines knappen Jahres — von Januar bis November 2007 — haben die Kurse der Währungen der Schwellenländer im Verhältnis zum US-$ einen enormen Aufschwung genommen.
der südafrikanische Rand stieg gegenüber dem US-$ um 18 %
der brasilianische Real stieg gegenübe dem US-$ um 16 %
die indische Rupie stieg gegenüber dem US-$ um 13 %
Chinas Währung — der Renminbi — wird auf einem künstlich niedrigen Kurs gehalten, um die Exportwirtschaft des Landes nicht zu beeinträchtigen.
Gleichzeitig nimmt die Wirtschaftskompetenz der etablierten Weltmächte scheinbar ab. Das Leistungsbilanzdefizit der “Weltwirtschaftsmacht Nr. 1” wird immer größer — von 140 Mrd. “Miesen” im Jahre 1997 über 300 Mrd. (1999) bis auf 792 Mrd. (2005).
Aus den Devisenreserven der einzelnen Staaten ergibt sich ein weiterer Punkt: das Finanzvolumen wird ja bei Banken angelegt, die mit dem Geld wirtschaften und Gewinne erzielen. Dementsprechend sind heute (November 2007) drei Banken aus China zu den Spitzenreitern der Branche aufgestiegen. Nach dem Börsenwert — der auch die Erwartung der Aktionäre in das künftige Ergebnis der Geschäftstätigkeit wiedespiegelt — bilden die Industrial a. Commercial Bank of China (CBC — 364 Mrd. US-$), die China Construction Bank (253 Mrd. $) und die Bank of China (229 Mrd. $) die drei größten Banken der Welt. An vierter Stelle folgt die britische HSBC (224 Mrd. $) vom alten Finanzzentrum London. Amerikanische Banken (Bank of America — 200 Mrd. $, Citigroup — 188 Mrd. $ und die CP Morgan Chase — 146 Mrd. $) müssen schon als “abgeschlagen” gewertet werden.
Dabei darf man sich aber von den absoluten Zahlen nicht täuschen lasssen. Gemessen am realen BIP pro Kopf liegt China mit 24.000 HK-$ (Stand 2005, kaufkraftbereinigt) nur knapp vor dem Bürgerkriegsland Sri Lanka. “Einkommensinseln” wie Hongkong (203.000 HK-$) können nicht darüber hinweg täuschen, dass die Masse der Landbevölkerung noch weit hinter der Entwicklung herhinkt. Indien (12.000 HK-$ pro Kopf) folgt sogar nach den armen Philippinen (17.000 HK-$), dem von bürgerkriegsähnlichen Unruhen erschütterten Pakistan (14.000 HK-$) und liegt nur knapp vor Kambodscha (8.000 HK-$).
Neue Rangfolge unter den Weltwirtschaftsmächten:
China — die USA — Indien und dann Europa — so erwartet Goldmann-Sachs im Jahre 2050 die am BIP orientierte Reihenfolge der wichtigsten Wirtschaftsmächte, und von der Einwohnerzahl her werden Indien und China — vor den USA und Westeuropa — die Welt dominieren (Quelle: SPIEGEL, 11.09.2006). Und weil wirtschaftliche Macht meistens auch mit politischer Macht einhergeht (moralische Autoritäten wie der Dalai Lama oder der Papst im Vatikan üben — selbst wenn sie über einen eigenen Staat herrschen — eine andere Art von “Macht” aus), wird mit dieser Wirtschaftsänderung auch eine neue Weltordnung entstehen, es gibt neue Akteure, “die die Welt beherrschen”.
Aus den einstigen “Schwellenmächten” haben sich sogenannte “Ankerländer” entwickelt. Das sind Staaten, die für die stabilen Verhältnisse in ihrer Region und für die Nachbarn so wichtig geworden sind, dass ihre sichere “Verankerung” — so das Ende 2004 entwickelte Konzept des BMZ — auch im Interesse Deutschlands liegt. Es sind Staaten, die “global eine wachsende Rolle in der Gestaltung internationaler Politik” einnehmen. Tatsächlich agieren vor allem auch China und Brasilien immer mehr auf der internationalen Bühne.
Mit dem Pekinger Afrikagipfel — bei dem über 40 Staats- und Regierungschefs aus Afrika in Peking intensiv umworben wurden — zeigt China im Herbst 2006 offen, dass es Afrika zunehmend als Interessensgebiet und Partnerregion begreift. Von 1995 bis 2006 wurden 27 Öl- Gas- und Erzprojekte mit afrikanischen Staaten abgeschlossen. China errichtet Häfen, baut Eisenbahnen, U‑Bahnen, Flughäfen, Telekomnetze und ganze Stadtregionen neu auf und entsendet ein unermüdliches Heer von Arbeitskräften — ohne von den afrikanischen Geschäfspartnern Mindeststandards in der Sozialpolitk, der Korruptionsbekämpfung oder beim Umweltschutz zu fordern. China dient sich damit gerade despotischen Führerpersönlichkeiten auf dem afrikanischen Kontinent an. Bis 2010 soll — so wurde auf dem Gipfel in Peking angekündigt — Handel, chinesische Investitionen und Entwicklungshilfe in Afrika verdoppelt werden. Zehn Mrd. $ Vorzugskredite wurden offeriert, gleichzeitig Milliardenschulden erlassen und eine Unmenge an Hilfen vom Bau von Agrarzentren, Dorfschulen und Kliniken bis hin zu Ausbildung, Stipendien und weiteren Hilfen zugesagt.
Auch Brasilien betrachtet die Süd-Süd-Kooperation als außenpolitische Priorität mit besonderem Schwerpunkt in Afrika. Brasilien hat mit 22 afirkanischen Staaten entwicklungspolitische Kooperationen vereinbart und führt gemeinsame Flottenmanöver und Freundschaftsbesuche mit afrikanischen Staaten durch.
Staaten wie die USA, Russland, Brasilien, China, Japan und Indien oder Australien und Staatengemeinschaften wie die EU , MERCOSUR , die ASEAN-Staaten oder auch die ARABISCHE LIGA und die Gemeinschaft der türkischsprachigen Staaten Eurasiens repräsentieren Gemeinschaften von (sub-)kontinentalen Ausmaßen und können (bei entsprechender Solidarität und Entwicklung) von der Ausdehnung (Fläche) und der damit verbundenen Menge an Ressourcen (Bodenschätze) und/oder auch von der Bevölkerung (Potential) jeweils für sich beanspruchen, in globalen Spiel der Mächte mitreden zu können.
Gerade bei den letztgenannten Staatengemeinschaften ist interessant festzustellen, dass sich die Bildung dieser Gruppen an Hand von ethnischen, d.h. vor allem von sprachlich-kulturellen Gemeinsamkeiten vollzieht.
Die UNESCO *) empfahl schon vor Jahren, zur Unterscheidung der verschiedenen Völker statt der Einteilung in Rassen von kulturellen Gruppen (cultural groups) zu sprechen, welches später als ethnische Gruppe übersetzt wurde: “Cultural groups, or national, linguistic, religious and geographical groups, do not necessarily coincide with racial groups. The cultural traits of such groups have no demonstrated causal connexion with hereditary racial traits. Americans are not a race, nor are Englishmen, Frenchmen, Spaniards, Turks or Chinese, nor any other national group. Muslims and Jews are no more races than are Catholics and Protestants. These cultural groups are not describable as races because each cultural group is composed of many different races. Serious errors are habitually committed when the term race is used in popular parlance; the term should never be used when speaking of such human cultural groups.”
*) vgl. The race concept. Results of an inquiry UNESCO Paris, 1952, Seite 73 und 99 (pdf)
Für die Politik stellt sich die Frage, wie mit dieser geänderten geopolitischen Situation umgegangen werden kann. Auch Weltmächte wie die USA geraten bei einer klassischen Hegemonialpolitik an die Grenzen der eigenen Leistungsfähigkeit. Selbst wenn heute eine Weltmacht wie die USA ein Waffenembargo gegen einen Staat der Erde verhängt — es finden sich andere Staaten oder Staatengemeinschaften, die den Platz dieses Lieferanten binnen kürzester Zeit einnehmen. Und auch eine direkte Intervention gegenüber kleineren Staaten erscheint immer problematischer.
Vietnam und Afghanistan, Somalia und Irak stehen synoym für das Debakel von Weltmächten, deren agieren alleine auf militärischer Stärke und unter gleichzeitiger Missachtung kultureller Eigenheiten beruht. Die Einbindung kleinerer Staaten in ethnisch-kulturell begründeten Staatengemeinschaften verbietet bei gemeinsamer Solidarität der Beteiligten zunehmend jede Art von Druck “von Außen”, Druck sowohl wirtschaftlicher wie auch militärischer Art.