Es gibt nicht nur drei Welten sondern zur Jahrtausendwende vier Akteure:
Die globale Sicherheitspolitik wird zunehmend auch von Staaten aktiv beeinflusst, die nicht der “Ersten Welt” angehören. Bereits heute können vier militärische (und auch wirtschaftliche) “Schwergewichte”, die zugleich auch Atommächte sind, konkretisiert werden. Diese Schwergewichte (Europa ist zugleich durch Großbritannien und Frankreich vertreten) bilden die “Ständigen Mitglieder” des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen.
Als weiterer Anwärter ist Indien dabei, sich als Wirtschaftsmacht und zugleich auch als Atomwaffenstaat zu etablieren.
| USA | EU | Russland | China | Indien |
Fläche (km²) | 9.809.155 | 4.324.754 | 17.075.200 | 9.572.419 | 3.287.263 |
Bevölkerung (2007) | 301,1 Mio. | 490,0 Mio. | 141,4 Mio. | 1.300 Mio. | 1.130 Mio. |
Rüstungsausgaben (Mrd. $) | 417,5 (2005) | 130,0 (2005) | 39,8 (2006) | 37,5 (2006) (geschätzt) | 15 (2005) |
Anteil Rüstung am BIP | 4,1 % (2005) |
| 4,1 % (2005) | 1,5 % | 2,5 % |
Atomsprengköpfe | 15.000 | 156 | 10.000 | 2.000 | > 130 |
Atombombentests | 1.039 (bis 1992) | 243 (bis 1996) | 718 (bis 1990) | 45 (bis 1996) | 3 (bis 1998) |
Strategische Bomber | 72 |
| 78 (+ 50 geplant) | ? | ? |
SSBN | 18 | 12 (+ 2) | 15 (+ 8 geplant) | 1 (+ x im Bau) |
(geplant) |
Aktives Militär | 1,5 Mio. | 1,2 Mio. | 980.000 | 2,3 Mio. | 1,3 Mio. |
Flugzeugträger | 12 (+1) | 7 (+ 3) | 1 | (+ 1) | 1 (+1) |
Kampfflugzeuge | 4.200 |
| 2.600 | 2.000 | 740 |
Panzer | 7.900 |
| 22.000 + | 8.400 | 3.800 |
Dass es sich hierbei auch um wirtschaftlich bedeutsame Gruppierungen handelt kann nicht überraschen. Wirtschaftskraft ist die Voraussetzung für militärische Stärke. Und militärische Stärke ist letztendlich immer noch das Druckmittel, eigene politische Interessen offensiv zu vertreten (power projection) bzw. sich gegen solche Anmutungen zu wehren.
Die zunehmende Bedeutung der “Schwellenländer” wird zum Einen am wirtschaftlichen Wert der Unternehmen, und zum anderen an der gesamten Wirtschaftsleistung dieser Länder deutlich.
Nch einer Analyse der Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft Ernst & Young, die die Marktkapitalisierung der am höchsten bewerteten Unternehmen der Welt im Jahresvergleich (Stichtag jeweils der 31. Dezember) untersucht hat, haben unter den 100 wertvollsten Unternehmen der Welt chinesische Firmen ihren Marktwert im Jahr 2007 mit einem Zuwachs von 123 % mehr als verdoppelt, dagegen mussten die amerikanischen Firmen eine um 10 Prozent geringere Börsenbewertung hinnehmen. China stellt im Ländervergleich hinter den Vereinigten Staaten und Europa die meisten Unternehmen in der Liste. „Die Ergebnisse zeigen sehr deutlich den rasanten Bedeutungszuwachs der Schwellenländer — insbesondere Chinas — für die Weltwirtschaft“ wird ein Vorstandsmitglied von Ernst & Young in der FAZ zitiert. Und auch Europas Firmen gewinnen an Marktwert.
Was sich für die Unternehmen sagen lässt — die USA (und Japan) als “Verlierer”, China und Europa als “Gewinner” im internationalen Vergleich — lässt sich auch aus den gesamtwirtschaftlichen Daten für die gesamte Volkswirtschaften dieser Länder formulieren.
Die USA hatten 2006 gut 27 % Anteil am Welt-BIP (2002 noch knapp 32 %), auch Japan musste seinen Anteil am Welt-BIP (2002 noch 12,0 %) bis 2006 auf 9,1 % reduzieren. Europas größte Staaten folgten 2006 zusammen mit 22,1 % (Deutschland mit 6,0, GB mit 4,9, Frankreich mit 4,6, Italien mit 3,8 und Spanien mit 2,5 %). China stand mit 5,5 % (nach 4,4 % in 2002) an vorderster Stelle, und auch Brasilien war mit 2,2 % ein Aufsteiger im globalen Wirschaftswettbewerb.
Nach aktuellen Prognosen werden die USA, die EU, China und Indien zusammen genommen in den Jahren 2010 bis 2030 jeweils (zum Teil deutlich) mehr als die Hälfte der globalen Bevölkerung, des erwirtschafteten BIPs und der Exporte auf sich vereinen.
Bevölkerung | 2010 | 2030 |
USA | 310 Mio. 4,5 % | 365 Mio. 4,4 % |
EU | 726 Mio. 10,4 % | 698 Mio. 8,4 % |
China | 1.355 Mio. 19,4 % | 1.446 Mio. 17,4 % |
Indien | 1.183 Mio. 17,0 % | 1.449 Mio. 17,4 % |
Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Mrd. US-$ | ||
USA
| 12.640 29,3 % | 19.296 26,2 % |
EU
| 11.384 26,4 % | 15.864 21,5 % |
China
| 2.650 6,1 % | 7.823 10,6 % |
Indien
| 931 2,2 % | 3.165 4,3 % |
Exporte in Mrd. US-$ | ||
USA | 1.683 11,6 % | 3.749 31,0 % |
EU | 5.559 38,4 % | 10.296 31,0 % |
China | 1.434 9,9 % | 5.156 15,5 % |
Indien | 218 1,5 % | 1.198 3,6 % |
Quelle: Handelsblatt, 23.–25. März 2007, S. 8–9
Diese “Vier bis Fünf Großen” sind in vielen Punkten vergleichbar. Die USA und Russland sind die “klassischen militärischen Rivalen”. China und die USA haben in etwa dieselbe Fläche, China hat aber die mehr als 4‑fache Bevölkerung. In unserem EU-Einführungsdossier haben wir viele Vergleiche zwischen den USA und der EU gezogen. Indien wieder ist etwas kleiner als Europa, hat gleich viele Einzelstaaten (2007) aber zweimal soviel Menschen, und Indien und China sind die beiden asiatischen Rivalen, die sich auch in der Wirtschaftsentwicklung — bei etwa gleich großer Bevölkerung — ein Wettrennen liefern.
Bemerkenswert dabei ist, dass die EU vor allem als “Exportweltmeister” prognostiziert wird — weit mehr als die USA und das prosperierende China, das im Jahr 2030 die USA deutlich überholen soll. Der vom Export getragenen Wirtschaft der EU muss also an stabilen und friedlichen internationalen Beziehungen gelegen sein — weit mehr als den USA, deren BIP nach der Handelsblatt-Prognose in wesentlich geringerem Maße von der Exportwirtschaft geprägt sein wird. Die EU ist also geradezu gezwungen, sich in geopolitischem Maßstab zu engagieren.
Gerade chinesische Analysten — mit ihrem durchaus unterschiedlichen Denkansatz — sehen die EU “als einen der wichtigsten Akteure in einer sich multiploarisierenden Welt. .… In der Außenhandelspolitik sei die Integration am weitesten fortgeschritten; ökonomisch könne die EU daher auch durchaus bereits als Führungsmacht bezeichnet werden. Auch im entwicklungspolitischen Bereich gelinge es der Union, weitgehend geschlossen aufzutreten und innerhalb der internationalen Gemeinschaft einen wichtigen Beitrag zu leisten. Diplomatie und Verteidigung würden aber noch lange Zeit Sonderbereiche bleiben, bei denen die Mitgliedstaaten eine Kompetenzabgabe an Brüssel ablehnten.” (zitiert aus “Eurasisches Magazin” — EM 09–07 · 30.09.2007). Nach chinesischer Überzeugung sind die Europäer auf dem Weg, zu einer in sich geordneten harmonischen Gesellschaft zu werden, deren Mitglieder die gemeinsamen Interessen über die Interessen der einzelnen Nationalstaaten stellen. Die USA würden dagegen jede Möglichkeit nützen, um die Harmonisierung der Europäer zu destabilisieren und damit die EU in ihrer Handlungsfähigkeit einzuschränken. Aus chinesischer Sicht haben die Europäer daher ein natürliches gesamteuropäisches Interesse, den Einfluss der USA in Europa zu reduzieren.
Das heisst aber nicht, dass andere Staaten wie Russland und Brasilien oder Staatenbunde — wie etwa die Mercosur — Staaten als künftige “global players” unterschlagen werden dürfen.
Das Auftreten der “neuen, zunehmend global auftretenden Mitspieler” fordert nämlich zugleich zu einer weiteren Fragestellung auf:
Gibt es weitere “potentielle Kandidaten”, die in den erlauchten Kreis dieser Mächte hinzu stoßen könnten?
Ausgehend von den genannten “Vier bis Fünf Großen” kommen hierzu wohl Staaten oder Staatenverbände in Frage, die eine Fläche von mehr als 3 Mio. km² (Indien), eine Bevölkerung von mehr als 140 Mio. Menschen (Russland), Rüstungsausgaben von mehr als 15 Mrd. $ (Indien, China), ein aktives Militär von zusammen genommen mindestens rund 1 Mio. Mann (Russland) und eine eigene Rüstungsindustrie haben, die in der Lage ist, sämtliche Teilstreitkräfte eines Landes autark mit hochwertigen Rüstungsgütern zu versorgen (wie China und Indien). Dies fordert auch eine entsprechende industrielle und wirtschaftliche Grundlage der jeweiligen Volkswirtschaften — zusammen genommen im Jahr 2010 wohl ein BIP von mindestens etwa 1.000 Mrd. $ (Indien).
Atomwaffen sind — das mag verwundern — hier nicht aufgeführt. Letzendlich sind diese Waffen doch (wie die Erfahrungen des “Kalten Krieges” zeigen) die “ultimative Nichtangriffsversicherung”. Nur wer selbst über glaubhafte atomare Abschreckung verfügt, ist letztendlich vor militärischen Bedrohungen eines Angreifers gefeit. Der Atomwaffensperrvertrag — löchrig wie ein Schweizer Käse — bietet aber immer noch einen halbwegs wirksamen Schutz vor der Weiterverbreitung atomarer Waffen, die in den Händen eines Ideologen oder gar eines Wahnsinnigen ja auch zur ulitmativen Bedrohung werden können. Mit der Verbreitung dieser Waffensysteme würde die Wahrscheinlichkeit, dass es zu (auch irrtümlichen) nuklearen Auseinandersetzungen kommt immer mehr ansteigen. Insofern zeigt der Verzicht auf eigene Atomwaffen nicht unbedingt die Schwäche eines Staates auf, sondern es kann auch — im Gegenteil — ein Zeichen von Stärke sein, wenn auf diese Waffensysteme (freiwillig) verzichtet wird.
Tatsächlich zeichnet sich nach dem Ende der Kolonialisierung und des “Kalten Krieges” eine zunehmend multipolare Welt ab. Die Bildung regionaler Machtzentren geht einher mit der Revitalisierung historischer Beziehungen — die auf gewachsenen Bindungen, insbesondere im Bereich der Sprache, der Religion und der regionalen Wirtschaftskontakte aufbauen.
Am Beispiel der Arabischen Staaten und der türkischen Staaten Eurasiens stellt sich auch die Frage, ob eine rein geographische Einteilung der Länder absolut richtig ist, oder ob es — gerade wenn es um das Verständnis einer zunehmend multipolaren Welt geht — nicht besser ist, diese Bündnisse und regionale und kulturelle Eigenheiten als Hintergrund einer Organisationseinteilung zu sehen.