“Das Bekenntnis zur europäischen Verteidiung muss mehr sein als ein Lippenbekenntnis. Von einer Intensivierung der militärischen Zusammenarbeit werden wir am Ende alle profitieren.“
Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, in der FAZ vom 09.12.2010
Ein Blick vor den Gartenzaun:
Vor den Grenzen der Europäischen Union herrscht vielfach Chaos und Unruhe. Sowohl auf dem Balkan (Jugoslawiens Nachfolgestaaten), wie auch im Nahen Osten (Türkei — Kurden, Libanon, Israel) gab und gibt es immer wieder “heiße” Konflikte. In Nordafrika droht latente Unruhe durch fundamentalislamistische Organisationen. Weißrussland ist die letzte Diktatur auf europäischem Boden. Hier haben die Europäischen Staaten eine gemeinsame Sabilisierungs- und Zivilisierungsaufgabe. Überall dort, wo sich Europa zurückzieht erhalten destabilisierende Elemente mehr Einfluss. Die dauerhafte Stabilisierung der Nachbarstaaten ist für die liberale Demokratie und das Wirtschaftsleben der EU ohne Alternativen. Die USA können sich aus Afghanistan zurück ziehen — aber der Balkan bleibt benachbart. Europa muss also im eigenen Interesse zu einer gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik finden.
Eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU wird “direkt vor der eigenen Haustür” immer mehr gefordert.
Dabei gerät der Blick der Europäer zunehmend auch in den Norden — in das Nordpolarmeer. Die zunehmende Erderwärmung macht das Meer nicht nur als Handelsweg zum Pazifik immer interessanter, sondern wegen der dort vermuteten Rohstoffe auch für die Wirtschaft immer wichtiger. Dänemark streitet sich mit Kanada um den Besitz der winzigen Insel “Hans” zwischen Grönland und Kanada — und Norwegen, potentielles EU-Mitglied und wegen seiner reichen Ölvorkommen vor den Küsten geschätzter Partner — rangelt sich mit Russland um den Grenzverlauf in der Barentssee.
Sicher, vieles lässt sich mit Diplomatie — und schierer Wirtschaftskraft und Innovationsfähigkeit — lösen. Aber: schon die Anwendung sanfter Gewalt setzt die Option harter Gewalt voraus. Schon der Schutz eigener Bohrinseln und Schiffe in umstrittenen Gewässern verlangt die glaubhafte Präsenz von Sicherheitskräften. “Speak softly and carry a big stick.” — so hat schon Theodor Roosevelt zu Beginn des 20. Jahrhunderts der amerikanischen Nation empfohlen.
Von der WEU zur Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP):
Die Westeuropäische Verteidigungsunion (WEU) konstitutierte sich als Nachfolgeorganisation der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG), die im Rahmen des Brüsseler Vertrages (März 1948) gegründet wurde, aber am Widerstand Frankreichs scheiterte.
Bereits im Vertrag von Maastricht wurde die Absicht festgehalten auf längere Sicht zu einer gemeinsamen Verteidigung der EU zu kommen. Im Maastrichtvertrag heißt es: “Die WEU ist als integraler Bestandteil der Entwicklung der Euorpäischen Union anzusehen.” Und die WEU solle künftig beauftragt werden: “die verteidigungspolitischen Entscheidungen und Aktionen der EU auszuarbeiten und durchzuführen.” Es gab dazu aber keine konkreten Festlegungen, zumal Beitrittsverhandlungen mit einigen (auch neutralen!) Ländern gerade liefen, beziehungsweise ausständig waren.
Im Vorbereitungsprozeß zum Amsterdamer Vertrag wurden von verschiedenen EU-Ländern massive Änderungswünsche zum Bereich der “Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik” (GASP) vorgebracht. Ziel war der Ausbau der WEU zu einem “Europischen Verteidigungsarm”. Diese Überlegungen stießen vor allem in Österreich, Finnland, Irland und Schweden auf Bedenken. Diese Staaten — z.T. durch internationale Verträge oder Verfassungsrecht zur “immerwährenden Neutralität” verpflichtet — konnten ihr Selbstverständnis nicht opfern, um innerhalb der EU zu einer zweiten — europäischen- Säule der NATO zu werden.
Andererseits hat gerade das Scheitern der EU im Kosovo-Konflikt gezeigt, dass die EU für gemeinsame Kriseninterventionen — auf der Basis von UN-Beschlüssen wie auch ermächtigt durch Beschlüsse des EU-Rates vorbereitet sein muss. Dies verlangt nicht nur politische Abstimmungen, sondern auch eine kompatible Ausrüstung und die Erprobung der gemeinsamen Zusammenarbeit und Koordination möglicher beteiligter Truppeneinheiten.
Im September 2007 machten spanische Überlegungen zur verstärkten Kooperation der sechst größten EU-Staaten im Bereich der Verteidigung Schlagzeilen. Der spanische Verteidigungsminister Alonso kündigte an, sich in Gesprächen mit Deutschland, Fankreich, Großbritannien, Italien und Polen um eine engere Kooperation zu bemühen, um Europa ein größeres Gewicht in der Welt zu verschaffen. Auch der geplante EU-Reformvertrag sieht eine verstärkte militärische Zusammenarbeit der EU-Mitglieder vor. Auch kleinere Länder — wie Irland oder Schweden — unterstützten mit “den Großen” die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU, indem etwa Bodentruppen für “out of aerea Einsätze” wie im Tschad bereit gestellt werden. Auf dem Balkanin Bosnien und Mazedonien hat die EU das NATO-Mandat abgelöst, europäische Truppen stehen in Afghanistan, sichern die Küste des Libanon und stellen 12 der 17 an der UNIFIL-Mission beteiligten Nationen im Südlibanon. Europäische Polizisten bewachen den Grenzübergang Rafah zwischen Ägypten und dem Gaza-Streifen. Europäische Einheiten werden zunehmend in internationalen Sicherheitsmissionen im Auftrag der UNO — so bei der Überwachung der Wahlen im Kongo — aktiv.
Bis 2010 will die EU eine Schnelle Eingreiftruppe von 80.000 Mann aufstellen, die innerhalb von 60 Tagen verlegen und bis zu einen Jahr im Einsatz stehen kann — ausgestattet mit 100 Schiffen, unter anderem vier Flugzeugträgern und 400 Kampf- und Transportflugzeugen. Während Deutschland mit 33.000 Mann das Rückgrat der Truppe stellen soll, werden Briten und Franzosen eine noch schnellere Inerventionstruppe bereit stellen, die innerhalb von 48 Stunden einsatzbereit sein soll.
Dazu werden etwa acht “Battlegroups” mit je 1.500 Mann aufgestellt, die neben dem Balkan vor allem für den Einsatz in Afrika vorgesehen sind — dem klassischen Interessensgebiet der europäischen Kolonialmächte, die vielfach immer noch als Stabilisierungsmacht aktiv geblieben sind.
Nach 2010 soll die Schnelle Eingreiftruppe auf bis zu 160.000 Mann verdoppelt werden — und die Reaktionszeit von 60 Tagen auf 20 Tagen reduziert. Als Eingreifgebiet ist jeder Ort in einer Entfernung von bis zu 5.000 km von Brüssel vorsehen. Die zugehörige Flugzeugflotte soll um die Hälfte auf 600 Kampf- und Transportflieger aufgestockt werden. Es wird sogar diskutiert, dieser EU-Truppe die britischen und französischen Atomwaffen mit zur Verfügung zu stellen. Wenn man bedenkt, dass um 1900 gerade mal knapp 120.000 reguläre britische Soldaten — davon alleine 75.000 Mann in Indien — und 100.000 Seeleute das britische Empire kontrollierten, kann man das Interesse Europas an einer aktiven Sicherheitspolitik vor den eigenen Grenzen ermessen. “Europa wird in Afghanistan verteidigt” lautet eine der Begründungen für den Einsatz in diesem Land- das freilich bereits jetzt knapp 40.000 NATO-Soldaten (mit steigender Tendenz) im Lande beschäftigt.
Eine solche Eingreiftruppe verlangt eine Vereinheitlichung der Ausrüstung, um die Versorgung mit Ersatzteilen, Munition usw. möglichst einfach und den Austausch von Material problemlos bewältigen zu können.
Eine weitere Prioritätstellt daher die europäische Rüstungsindustrie dar. Im November 1998 ist sogar das zur Neutralität verpflichtete Österreich Mitglied in der Westeuropäischen Rüstungsagentur (WEAG) geworden, die gemeinsame Projekte sowie die Beschaffung und Entwicklung von Rüstung koordinieren soll.
Das ist auch einleuchtend — die getrennte Entwicklung von hochkomplexten Systemen, die Erzeugung kompatibler Strukturen und Versorgungsstränge kosten Geld. “Kein Verteidigungshaushalt ist heute groß genug, um einem heimischen Hersteller ausreichend Absatzmöglichkeiten zu bieten, sodass sich die Ausgaben für Forschung und Entwicklung auch lohnen” (Wirtschaftswoche, 22.10.2007). Die Wirtschafswoche (WiWo) zitiert den für Industrie zuständigen EU-Kommisar Günter Verheugen denn auch mit der — verärgerten — Feststellung, in der EU gäbe es “vier verschiedene Panzer und 23 nationale Programme für Panzerfahrzeuge”. Insgesamt gibt es, so die WiWo, in der EU 89 europäische Rüstungsprogramme während sich die USA mit insgesamt 27 Programmen zufrieden gäben. Die Parallelentwicklung von Waffensystemen verschlingt Geld. Was in der Entwicklung von verschiedenen gleichartigen Programmen verschleudert wird fehlt, um das “Quentechen mehr” an durchgreifender Qualität zu erhalten.
Inzwischen haben 22 der 25 an der “Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik” (ESVP) teilnehmenden Staaten sich freiwillig zur Zusammenarbeit im Rahmen der Europäischen Verteidigungsagentur (EDA) bereit erklärt.
Seit 01.07.2006 ist über diese Agentur eine fast revolutionäre Neuerung in Kraft getreten. Über ein “Electronic Bulletin Board”, die Internetseite der Europäischen Verteidungsagentur, werden seither nationale Beschaffungsmaßnahmen europaweit ausgeschrieben. Dies fördert nicht nur den Wettbewerb, was zur effektiveren Einsatzmöglichkeit der knappen Rüstungsetats führt, sondern ermöglicht gerade kleineren und mittleren Betrieben mit hoher Spezialisierung einen besseren Zugang zu europaweitem Aufträgen. Zugleich trägt dieser transparente Wettbewerb zur Konsolidierung der europäischen Industrie und sicher auch zur Harmonisierungbei. Künftig sollen alle Aufträge im Wert von über einer Million Euro Auftragsvolumen ausgeschrieben werden. Ausgenommen sind lediglich die sensiblen Projekte der Nuklearwaffen, biologische, chemische und radiologische Kampfmittel und ihrer Trägersysteme, Verschlüsselungstechnologien und reine Forschungs- und Entwicklungsarbeiten. Darüber hinaus ost aus Gründen der nationalen Sicherheit, für dringende operative Erfordernisseoder zur Fortführung bestehender Beschaffungsmaßnahmen eine Ausnahme von der Ausschreibung möglich.
externer Link:
FAZ: EU-Verteidigungspolitik “Streitkräfte im Tiefschlaf”