Westeuropa (Einführungsdossier)

Wo liegen Europas Grenzen?

Zurück zu Lord Pad­dy Ash­down und sein­er Wei­h­nacht­sansprache 2002 in Sara­je­wo:
Wo liegt aber nun der Unter­schied von Bosnien-Herze­gow­ina oder dem Koso­vo zu Let­t­land oder Litauen, zu Ungarn oder Slowe­nien, wenn ein EU-Repräsen­tant in Bosnien-Herze­gow­ina (also wie Slowe­nien auch ein Bestandteil des ehe­ma­li­gen Jugol­saw­ien) auf die geschilderte Weise eine “EU-Reife” anmah­nt und ein­fordert? Hat nicht Slowe­nien diesen Schritt sehr viel schneller vol­l­zo­gen als der eben­falls aus der jugoslaw­is­chen Erb­masse her­vorge­gan­gene Nach­barstaat nur wenige Kilo­me­ter weit­er südlich?

Wer heute von Kroa­t­ien nach Bosnien-Herze­gow­ina fährt und die ehe­ma­lige Mil­itär­gren­ze zwis­chen Öster­re­ich-Ungarn und dem Osman­is­chen Reich über­quert, wird schon nach weni­gen Kilo­me­tern fest­stellen, dass er sich in einem anderen Kul­turkreis befind­et. Bosnien-Herze­gow­ina war über Jahrhun­derte Bestandteil des Osman­is­chen Reich­es — wie der Irak am anderen Ende dieses unterge­gan­genen Imperi­ums auch. Das ehe­ma­lige Jugoslaw­ien war — und der Irak ist — ein Kun­st­staat, indem unter­schiedle­iche Eth­nien, unter­schiedliche Völk­er und Kul­turen kün­stlich zusam­men gepresst waren. Mit dem Weg­fall der Klam­mer zer­brach Jugoslaw­ien in einem bluti­gen Bürg­erkrieg, der auch in Bosnien-Herze­gow­ina zwis­chen katholis­chen Kroat­en, ortho­dox­en Ser­ben und mus­lim­is­chen Bosni­ak­en wütete, ein Bürg­erkrieg, der — neben­bei bemerkt — verdeckt inzwis­chen auch im Irak wütet.

Dort, wo eine über Jahrhun­derte gewach­sene Tra­di­tion die “europäis­chen Werte” verin­ner­licht hat, ist — wie in Slowe­nien — eine sehr rasche Inte­gra­tion “im europäis­chen Imperi­um” möglich. Dort, wo — wie in Bosnien-Herze­gow­ina oder im Koso­vo — eine völ­lig andere Kul­tur die Men­schen jahrhun­derte­lang geprägt hat, erfol­gt eine über Jahre dauernde “Europäisierung”.

Dies zu erken­nen ist eine der maßge­blichen Tugen­den europäis­ch­er Poli­tik. Die über­hastete Auf­nahme von Staat­en, die inner­lich zer­ris­sen sind, führt let­z­tendlich zum Zer­brechen eines frag­ilen Gle­ichgewichts, das diese Staat­en (noch) zusam­men­hält. Die Auf­nahme etwa Moldaw­iens oder der Ukraine würde zwar von einem Teil der Bevölkerung gewün­scht, wird aber gle­ichzeit­ig von ein­er großen Gruppe in einem eth­nisch geschlosse­nen Gebi­et abgelehnt. Diese Län­der sind zer­ris­sen zwis­chen Anwäl­ten der Europäisierung und treuen Fre­un­den Rus­s­lands. Damit aber sind auch die Gren­zen der “Erweiterungspoli­tik” aufgezeigt. Eine Erweiterung, die zum Zer­fall, ja zum Bürg­erkrieg in einem Gemein­we­sen führen muss, kann nicht im europäis­chen Inter­esse sein. Dann erfordert die innere Lage eines Beitrittskan­di­dat­en entsprechende Zurück­hal­tung in Europa — oder aber, man find­et sich mit dem Zer­fall eines Staatswe­sens ab, wie das in Jugoslaw­ien vorex­erziert wurde. Dies ist eine Frage der “Auf­nah­memündigkeit eines Beitrittskandidaten”.

Die andere Frage ist die der “Auf­nah­me­fähigkeit Europas”. Die fast als über­hastet zu beze­ich­nende Auf­nahme Rumäniens und Bul­gar­iens oder auch des Südens der Insel Zypern mit (zu?) niedri­gen Hür­den führt zu ein­er schw­eren Belas­tung­sprobe. Die EU kön­nte sich “wirtschaftlich ver­schluck­en” — so wie es der Bun­desre­pub­lik mit der Auf­nahme der DDR erg­ing, die heute noch den Wirtschafts- und Finanzpoli­tik­ern in Deutsch­land Sor­gen bere­it­et, oder auch “poli­tisch”, weil sich die Bevölkerung eines Staat “emo­tion­al” noch nicht dem europäis­chen Gedankengut angepasst hat. Denn das ist let­z­tendlich der zweite Baustein Europas:

Europa ist durch durch ein gemein­sames Kul­turerbe geprägt.
Auf griechisch-römis­chen Wurzeln (die heute noch in der Beto­nung des “logos”, der Wis­senschaft und im Rechtsver­ständ­nis, etwa zum Ver­tragsrecht, enthal­ten sind) hat sich das Chris­ten­tum als kul­turelle Basis entwick­elt, das vom Nord­kap bis Mal­ta, vom Atlantik bis zum Schwarzen Meer die gemein­samen ethis­chen Werte begrün­det. Die Aufk­lärung des 18. Jahrhun­derts ist ein weit­eres gesam­teu­ropäis­ches Erbe, so ist etwa die von Charles Sec­on­dat de Mon­tesquieu entwick­elte The­o­rie der „Gewal­tentren­nung“ (deren Grun­dalge sich bere­its im antiken Griechen­land – Aris­tote­les – find­et) zur Grund­lage aller demokratis­chen europäis­chen Staatswe­sen gewor­den und hat die Ver­fas­sun­gen aller Mit­gliedsstaat­en der EU entschei­dend geprägt. Dieses Prinzip beruht auf dem Gedanken, dass man die poli­tis­che Macht teilen muss, um ihren möglichen Miss­brauch zu ver­hin­dern. Das bedeutet, dass die staatlichen Funk­tio­nen getren­nt wer­den müssen, um die Frei­heit des Einzel­nen vor dem Macht­miss­brauch eines ungezügel­ten Macht­trägers zu sich­ern. Geset­zge­bung, Recht­sprechung und Aus­führung sind ver­schiede­nen Orga­nen anver­traut, die sich so gegen­seit­ig kon­trol­lieren und eine aus­ge­wo­gene Macht­bal­ance erlauben.In diesem Gedanken kommt die Frei­heit des Einzel­nen vor der staatlichen Gewalt zum Aus­druck – ein Gedanke, der anderen Kul­turen fremd ist. Der Kon­fuzeanis­mus, der ganz Ostasien (ein­schließlich Japan und Viet­nam) prägt, enthält dage­gen eine tief ver­wurzelte hier­ar­chis­che Kom­po­nente, ver­bun­den mit extremen Abnei­gun­gen gegen Unruhen oder gar Chaos. Das „Zusam­men­prallen“ dieser bei­den Ideen hat let­z­tendlich zur Tragödie am Tien­an­men-Platz (1989) geführt, der im West­en auf völ­liges Unver­ständ­nis stieß, aber durch die kon­fuzeanis­che Tra­di­tion Chi­nas mehr als erk­lär­bar wird. Europas Kul­tur umfasst nicht nur Ideen und Gedanken: wer sich durch die Städte Europas bewegt find­et über­all Gemein­samkeit­en. Der Baustil – von der Romanik über Gotik, Renais­sance, Barock, Rokoko, Klas­sizis­mus, His­toris­mus bis hin zum Jugend­stil – hat Kirchen und Schlöss­er, Bürg­er­häuser und Villen in Europa ein­heitlich geprägt. Wer in Krakau, Prag oder Warschau ste­ht befind­et sich in ein­er wes­teu­ropäis­chen Stadt, Wien und Budapest schöpfen in ihrem Stadt­bild aus der­sel­ben Quelle. Ja, wer auf dem Mark­t­platz ein­er der ober­bay­erischen Kle­in­städte von Inn oder Salzach, wer in der Alt­stadt von Regens­burg oder Pas­sau ste­ht, der kann dur­chaus manch­mal den Ein­druck haben, sich in ein­er ital­ienis­chen Stadt zu bewe­gen. Die Musik der unbekan­nten und der großen europäis­chen Kom­pon­is­ten wie Bach, Beethoven, Haydn, Mozart, Smetana, Tele­mann bis hin zu Leonard Bern­stein sind Kinder dieser „europäis­chen Epochen“. Die Choräle der Gre­go­ri­anik leben in den roman­is­chen und gotis­chen Kirchen­baut­en erst richtig auf und die Orgel­w­erke von Bach (+ 1750) sind kaum so gut zu genießen wie in einem zeit­gerecht­en barock­en Kirchen­bau, etwa der Dres­d­ner Frauenkirche (1726–1743).

Ein weit­eres — gemein­sames — europäis­ches Kul­turerbe ist die Sozialethik, die das Ver­hält­nis zwis­chen Arbeinehmern und Unternehmern bes­timmt. In den USA wurde noch im Somer 1892 ein Streik der Stahlar­beit­ergew­erkschaft “Amal­ga­mat­ed Assi­ci­a­tion” mit Todes­opfern und staatlichem Schutz für Streik­brech­er gebrochen. Die Gew­erkschaft hat­te zum Arbeit­skampf aufgerufen, weil der Stahlty­coon Andrew Carnegie die Löhne er knapp 4000 Arbeit­er seines Walzblech­w­erks in Home­stead, Penn­syl­va­nia, um durch­schnit­tlich knapp 20 % kürzen wollte — bei einem Jahres­gewinn von 4,3 Mio. Dol­lar und rund 20 % niedrigeren Pro­duk­tion­skosten gegenüber der Konkur­renz. “Der Erfolg heiligt die Mit­tel” — so das Cre­do der amerikanis­chen Indus­triekapitäne im aus­ge­hen­den 19. Jahrhun­dert. In Europa hat­te dage­gen bere­its zu Beginn der vierziger Jahre des 19. Jahrhun­dertes der sizil­ian­is­che Jesuit Lui­gi Tapar­el­li — an der päp­stlichen Uni­ver­sität der akademis­che Lehrer u.a. von Vin­cen­zo Gioacchi­no Pec­ci, dem späteren Leo XIII, der 1891 die erste Sozialen­zxk­li­ka “Rerum novarum” veröf­fentlichte — den Begriff der “sozialen Gerechtigkeit” geprägt. “Eigen­tum verpflichtet” ist der Kern­satz dieser These, deren Idee der Men­schen­würde und der sich daraus ergeben­den Men­schen­reche the­ol­o­gisch aus dem bib­lis­chen Ver­ständ­nis des Men­schen als “Eben­bild Gottes” abgeleit­et ist. Karl Marx (1848: Man­i­fest der Kom­m­mu­nis­tis­chen Partei) und Emmanuel von Ket­tler (1848: Adventspredigten im Mainz­er Dom, ab 1850 Bischof von Mainz) markieren zwei weit­ere her­aus­ra­gende europäis­che Per­sön­lichkeit­en, deren Wirken — auf ide­ol­o­gisch völ­lig unter­schiedlich­er Basis — nicht nur Europa geprägt son­dern weiltweit Auswirkun­gen hat­te, bis heute.

Und diese Kul­tur lebt: Europa ist nicht ein riesiges, großes Freilicht­mu­se­um, son­dern ein his­torisch gewach­sen­er, leben­der „Organ­is­mus“. Die Legit­i­ma­tion der EU beruht auf einem auf den Men­schen­recht­en basieren­den Ver­hal­tenskodex, auf ein­er gemein­samen Geschichte und Kul­tur – und auf einem Geflecht von ver­traglichen Vere­in­barun­gen, mit denen nationale Hoheit­srechte auf die Gemein­sacht der diesen Grundw­erten ver­bun­de­nen Union abge­treten wurden.

Ein wesentlich­er Teil der europäis­chen Wertekul­tur ist die Tol­er­anz. Auf dem Boden der Gedanken- und Geis­tes­frei­heit entwick­elt sich ein blühen­des Geis­tesleben, das auch zu wirtschaftlichen Inno­va­tio­nen führt. Die Regio­nen von Paris und Berlin, der Süd­west­en (Baden-Würt­tem­berg) und Süden Deutsch­lands (Hes­sen, Bay­ern) sowie Däne­mark, Schwe­den und Finn­land gehören nach Unter­suchun­gen des sta­tis­tis­chen Lan­desamtes Baden-Würt­tem­berg im Jahre 2006 zu den inno­v­a­tivsten Region Europas. Auf­grund dieser Inno­va­tions­fähigkeit kön­nen die Unternehmen mit ihren “kreativ­en Köpfen” im glob­alen Wet­tbe­werb punk­ten und Wet­tbe­werb­svorteile erzielen.

Europa fördert die Umset­zung der eige­nen kul­turellen Werte vor sein­er Haustüre.
Die europäis­che Ein­flussnahme erstreckt sich nicht nur auf die Beitrittskan­di­dat­en — etwa auf die Balka­nstaat­en und die Türkei; kaum ins Bewusst­sein gedrun­gen ist, dass die Europäis­che Kom­mis­sion 2004 mit der Ost-Erweiterung auch eine “Task-Force Größeres Europa” ins Leben gerufen hat, mit der die “Europäis­che Nach­barschaft­spoli­tik” (ENP) koor­diniert wird. Europa hat damit den Kreis sein­er Inter­essenssphäre abgesteckt. Marokko, Alge­rien, Tune­sien, Libyen, Ägypten, die Palästi­nen­sis­che Autonomiebe­hörde. Israel, Jor­danien, Libanon, Syrien, Moldaw­ien, Ukraine, Weißrus­s­land, Georgien, Arme­nien und Aser­baid­schan kön­nen sei­ther sich­er sein, dass die EU die Geschehnisse im Lande nicht nur sorgfältig beobachtet und reg­istri­ert. Europa wird auch bere­it sein, sich zu engagieren, wenn die Entwick­lung des Lan­des in eine den Europäern genehme Rich­tung unter­stützt wer­den kann. 

Während die USA im Irak nach ein­er “Exit-Strate­gie” suchen, weil der “Crash-Kurs” in Demokratie nach dem Sturz Sad­dams nicht den gewün­scht­en Erfolg hat­te, nimmt sich Europa Zeit — und investiert Mil­liar­den Euro, um Ruhe und Ord­nung — und die “Reife” der Staat­en vor sein­er Haustüre zu erre­ichen. Damit tritt Europas Zivil­i­sa­tion wieder in engen Kon­takt zu einem anderen Kul­turkreis, der seit fast einein­halb Jahrtausenden an den südlichen Gren­zen des Abend­lan­des heimisch ist. Nun muss sich zeigen, ob Europa nach den Jahrhun­derten der Nach­barschaft die Reife besitzt, mit dem Islam in einen kon­struk­tiv­en Dia­log zu treten — oder ob wieder die Kon­fronta­tion den Umgang zwis­chen islamis­chem Ori­ent und christlichem Abend­land bestimmt.

Europa ist zunehmend gefordert, sich mit der islamis­chen Kul­tur auseinan­der zu set­zen, die inzwis­chen auch in den größeren europäis­chen Städten heimisch gewor­den ist. Eine Studie der Stiftung Wis­senschaft und Poli­tik (pdf-Datei) — (www.swp-berlin.org) (SWP) vom April 2005 set­zt sich inten­siv mit der indi­vidu­ellen Inte­gra­tion der Mus­lime in den europäis­chen Staat­en auseinan­der. Diese innereu­ropäis­che Auf­gabe kor­re­spondiert mit der Frage, inwieweit mus­lim­is­che Staat­en auch in der Europäis­chen Union inte­gri­ert wer­den können. 

Eine der hierzu entschei­den­den Fra­gen ist das Ver­hält­nis von Reli­gion und Gesellschaft, die Frage von Tol­er­anz gegenüber Ander­s­gläu­bi­gen und von Diskri­m­inierungs­frei­heit (sowohl aus religiösen wie aus eth­nis­chen, geschlechtlichen, sex­uellen oder weltan­schaulichen Grün­den), die über die EU-Antidiskri­m­inierungsrichtlin­ie zum europäis­chen Rechts­stan­dard gewor­den ist.