Osteuropa — Russland


Flagge Russland

 

VON GORBATSCHOW ZU PUTIN — Fall und Wieder­auf­stieg ein­er Weltmacht:

Drei Poli­tik­er haben in den let­zten Jahrzehn­ten unser Bild von Rus­s­land geprägt.

Nach Gor­batschow (1985 bis 1991 Gen­er­alsekretär der KPdSU bzw. Präsi­dent der Sow­je­tu­nion) wurde die Sow­je­tu­nion aufgelöst — und damit eine längst über­fäl­lige Kon­se­quenz aus mehreren Entwick­lunge gezogen:

  • der demographis­chen Entwick­lung, wonach die Russen in der gesamten Sow­je­tu­nion nur noch eine Min­der­heit waren und die islamis­chen Völk­er ins­beson­dere Zen­tralasiens zunehmend dabei waren, die Mehrheit der Bürg­er des Reich­es zu werden
  • der wirtschaftlichen Entwick­lung, wonach die zen­tral­is­tis­che Plan­wirtschaft gegenüber der flex­i­blen Pri­vatwirtschaft immer mehr ins Hin­tertr­e­f­fen geri­et und
  • der dadurch aus­gelösten Prob­leme, mit dem West­en “auf gle­ich­er Augen­höhe” zu bleiben.

Dem West­en — ins­beson­dere in Deutsch­land — ist Gor­batschow aber in ein­er anderen Eigen­schaft in Erin­nerung geblieben. Er nahm den rus­sis­chen Ein­fluss­bere­ich auf das eigentlich rus­sis­che Kernge­beit zurück — und gab damit die im zweit­en Weltkrieg eroberten Gebi­ete östlich der Elbe, und dementsprechend auch die ehe­ma­lige DDR, für eine eigene Entwick­lung frei. “Per­e­stro­j­ka” und “Glas­nost” waren zwei Begriffe, die jed­er deutsche Jour­nal­ist im Schlaf buch­sta­bieren kon­nte, und die per­sön­liche “Män­ner­fre­und­schaft” zu Bun­deskan­zler Hel­mut Kohl führte zu ein­er “Gor­bi­ma­nia” die an das Anhim­meln von Pop-Stars gemah­nt. Gorbatschow’s Poli­tik führte ab 1989 zum Rück­zug der sow­jetis­chen Trup­pen aus Afghanistan. Der von “Appa­ratschkis” wie dem Chef des KGB, Wladimir Krjutschkow am 19. August 1991 gegen Gor­batschow aus­ge­führte Putsch been­dete die Macht des sow­jetis­chen Präsi­den­ten. Danach war Gor­batschow nur mehr ein Relikt aus früheren Zeit­en. Mit der von Jelzin betriebe­nen Grün­dung der “Gemein­schaft unab­hängiger Staat­en — GUS” am 08.12.1991 (durch Rus­s­land, Ukraine und Weißrus­s­land — am 21.12. trat­en weit­ere 8 Repub­liken der GUS bei) — und dem Rück­tritt von Präsi­dent Gor­batschow am 15.06.1991 endete die Sowjetunion.

Unter Gor­batschow erre­ichte Boris Jelzin - Alko­holkrank, kor­rupt und Macht­gierig — am 12.06.1991  mit etwas über 57 Prozent der Stim­men der Duma die rus­sis­che Präsi­dentschaft. Jelzin — nicht Gor­batschow — hat die Staatswirtschaft zer­schla­gen und den berüchtigten Oli­garchen den Weg geeb­net. Die von Jelzin am 21.09.1993 ver­fas­sungswidrig durchge­führte Auflö­sung des rus­sis­chen Par­la­ments führte zu bluti­gen Unruhen unter der Leitung von Alexan­der Ruzkoj (Gegen­präsi­dent) und Chas­bu­lataw, die am 3./4.10.1993 von Jelzin-treuen Trup­pen niedergeschla­gen wur­den. Gle­ichzeit­ig wurde der Abzug rus­sis­ch­er Trup­pen aus Afghanistan (bis Jan­u­ar 1997), aus Polen (Sept. 1992), Deutsch­land, Let­t­land und Est­land (Aug. 1994) ein­geleit­et und abgeschlossen.

Jelzin lies sein Land verkom­men, nur auf per­sön­lichen Prof­it bedacht wurde Wirtschafts­förderung mit der Ver­schleuderung von Staats­be­sitz ver­wech­selt. Die Infla­tion­srate stieg unter Boris Jelzin bis 1998 auf 84 %. Das durch­schnit­tliche Realeinkom­men (1994 = 100) fiel bis 1997 auf 89,9 % und 1998 auf 75,5 %. Erst nach einem weit­eren Tief­punkt (1999: 66,5 %) began­nen Putins Refor­men zu greifen — im Jahr 2000 erre­ichte das durch­schnit­tliche Jahre­seinkom­men wieder 75,1 % des Einkom­mens von 1994 und ist sei­ther ständig gewach­sen — auf 105 % im Jahre 2003 und 116,3 % im Jahre 2004. Gle­ichzeit­ig wur­den laufend “die Pferde gewech­selt”. Jelzin entlies die rus­sis­chen Min­is­ter­präsi­den­ten “wie am Flies­band”. Sobald sich ein­er der Poli­tik­er zu sehr der Spiel­wiese Jelzins näherte — Pri­makow etwa wollte mit der Kor­rup­tion in den höch­sten Führugnse­ta­gen “aufräu­men” — wurde von Jelzin “aufgeräumt”. Frau Starowo­j­towa, eine Peters­burg­er Poli­tik­erin, soll bei der Bekämp­fung von Kor­rup­tion sog­ar auf sehr brisantes Mate­r­i­al gestoßen sein, bevor sie “von Mafi­a­ban­den” auf offen­er Straße erschossen wude. Tat­säch­lich hat sich Jelzin z.B. in Peters­burg Ver­mö­gen west­lich­er Inve­storen “unter den Nagel geris­sen”. Die Angele­gen­heit ist inzwis­chen im West­en gerichts­bekan­nt — die Inve­storen haben inzwis­chen rus­sis­ches Staatsver­mö­gen in Deutsch­land gepfän­det, eine Bla­m­age für dieses Land, und eine Belas­tung, mit der sich Rus­s­lands nach­fol­gende Poli­tik­er immer noch herumschlagen.

Ja, Rus­s­land musste in dieser Zeit ein gigan­tis­ches Umstruk­turierung­spro­gramm durchlaufen:

  • den Weg von der Dik­tatur zur Demokratie, und das bei einem Volk, das naht­los von der  Zaren­herrschaft in die bolschewis­tis­che Dik­tatur wech­selte. Hier mussten völ­lig neue Struk­turen für eine neue Machtverteilung geschaf­fen wer­den, für die es in dem Riesen­land kein­er­lei Vor­bilder gab,
  • dem Weg von der Plan­wirtschaft zur Pri­vat- (Markt-)Wirschaft, und das bei einem Volk, dem über Jahrzehnte hin der “Kap­i­tal­is­mus” als die Wurzel allen Übels einge­bleut wor­den war, wo pri­vater Landbe­sitz zu mil­lion­fach­er Ermor­dung der Kulak­en, der Land­wirte führte (die unter Stal­in als Schmarotzer an der Gesellschaft beze­ich­net wurden)
  • und eine weit­ere Entwick­lung — vom Sow­je­tre­ich (dem Über­staat ohne Natio­nen) zum rusis­chen Nation­al­staat; wie wür­den die USA reagieren, wenn dieses Land ein Drit­tel seines Ter­ri­to­ri­ums an unab­hängige Indi­an­er­staat­en ver­lieren, die NATO aufgelöst und die USA weltweit kein­er­lei Ein­fluss mehr haben wür­den? Putin fasste den Zer­fall des Lan­des 1991 wie fol­gt zusam­men: “Mil­lio­nen Men­schen gin­gen in dem einen Land zu Bett und wacht­en in anderen Län­dern auf. Über Nacht wur­den sie eth­nis­che Min­der­heit­en in früheren Union­sre­pub­liken, während die rus­sis­che Nation eine der größten, wenn nicht sog­ar das weltweit größte Volk wurde, das durch Gren­zen geteilt ist.”

Und trotz­dem: das Land zer­fiel nicht im Bürg­erkrieg wie das explodierende Jugoslaw­ien, es gab keine ver­hungern­den Men­schen, keinen Mil­itär­putsch — aber eine weit­er­hin den Staat aufrecht erhal­tende Bürokratie. Die sein­erzeit 89 Gou­verneue hat­ten sich allerd­ings vielfach zu Feu­dalfürsten entwick­elt. Nach dem Vor­bild der “Fam­i­lie” (von Jelzin) grassierte auch bei den Gou­verneuren Kor­rup­tion und Willkür. Die Bun­deskon­trolle war zusam­menge­brochen. Jus­tiz und Strafver­fol­gung wur­den nach per­sön­lichen Inter­essen behin­dert oder missbraucht.

Die mit all diesen Mam­mu­tauf­gaben ein­herge­hen­den Schwierigkeit­en führte dazu, dass Rus­s­land im West­en und bei den west­lichen Konz­er­nen wesentlich kri­tis­ch­er beurteilt wurde als das auf­strebende, aber gesellschaft­spoli­tisch bru­tale, und nur in der Wirtschaft offene Chi­na. Trotz “Tien-an-men”: west­liche Konz­erne haben im “Absatz­markt Chna” mehr Poten­tial gese­hen als in der in Umstruk­turierung befind­lichen rusis­chen Wirtschaft. Rus­s­lands Bemühun­gen um Demokratie wur­den dage­gen durch einen kor­rupten Raubtierkap­i­tal­is­mus kon­terkar­ri­ert.
Chi­na ist denn auch in der Wirtschaft­sen­twick­lung eines der Vor­bilder rus­sis­ch­er Eliten. Aber dieses Vor­bild ist nach wie vor von ein­er Partei­dik­tatur beherrscht, die imemr noch den alten Reflex­en ver­fol­gt — Tibet beweist es im Früh­jahr 2008 erneut. Gle­ichzeit­ig set­zten sich im rus­sis­chen Volk die hehren west­lichen Begriffe mit “neg­a­tiv­en Inhal­ten” fest. Demokratie, Frei­heit, Lib­er­al­isierung, Wohl­stand — ist das nicht die ungezügelte Kor­rup­tion der Poli­tik­er, Chaos und Arbeit­slosigkeit, die Vere­len­dung viel­er und die unbe­gren­zte Bere­icherung weniger. “Man muß darüber im klaren sein, daß kaum ein­er der heute reichen Teil­haber oder Eigen­tümer der großen rus­sis­chen Konz­erne sein Ver­mö­gen und seine Ver­mö­gens­macht auf ein­wand­freie Weise erwor­ben hat. Wenn aus dem Kreise dieser Konz­ern­her­ren, der soge­nan­nten Oli­garchen, gle­ichzeit­ig ver­sucht wird, mit Hil­fe ihrer finanziellen Macht auf die Poli­tik des Staates einzuwirken, danns sind Kon­flik­te mir der Regierung unauswe­ich­lich …” (Hel­mut Schmidt, Bun­deskan­zler a.D., in “DIE MÄCHTE DER ZUKUNFT”).

Es ist kein Wun­der, dass das rus­sis­che Volk sich bei all den Umwälzun­gen unter Jelzin nach einem funk­tion­ieren­den, “starken Staat” sehnte. Eigentlich selb­stver­ständlich — aber erst ein funk­tion­ieren­des Staatswe­sen erlaubt die Frei­heit des Einzelnen.

Und in dieser Sit­u­a­tion betrat Putin die Bühne in Moskau, ein inter­na­tion­al erfahrende “Appa­ratsch­ki”, der die Eingliederung der DDR in das west­deutsche Wirtschaftssys­tem (nd die Fehler, aber auch die pos­i­tiv­en Entschei­dun­gen) haut­nah ver­fol­gen kon­nte. Ja, Jelzin wurde wohl lebenslange Straf­frei­heit und Schutz vor Ver­fol­gung zugesichert, aber das ist ein geringer Preis gegenüber dem, was Putin erre­ichte. Mit Unter­stützung der Jablonko-Partei (die sein­erzeit auch im West­en als die Partei mit dem größten Inter­esse an Wirtschaft­sre­for­men und Demokratie bekan­nt wurde) und deren Parteiführer Grig­orij Jawl­in­skij wurde eine sta­bilie Förder­a­tion gebildet. Die Regio­nen, die lediglich auf­grund von Sub­ven­tio­nen der Zen­tral­regierung über­lebens­fähig waren, soll­ten (bzw. sollen) mt starken Regio­nen ver­schmelzen. So ent­stand 2005 aus dem Gebi­et Perm und dem Autonomen Bezirk der Komi-Per­m­jak­en die Region Perm. Auch die Autonomen Bezirke der Chanten und Mansen sowie der Jamal-Nen­zen sollen nach mehr oder weniger san­ftem Druck aus Moskau mit der sibirischen Region Kas­no­jarsk ver­schmelzen. Diese Struk­tur­reform — und die Kürzung von Mil­itäraus­gaben — erlaubten eine Eta­tum­schich­tung zu Gun­sten des Bil­dungs- und Gesund­heitswe­sens. Zum ersten mal in der rus­sis­chen Geschichte wurde für die Zukun­ftsin­vesti­tion mehr Geld bere­it gestellt als für das Militär.

In diesem Zusam­men­hang sei ein Rück­blick auf das sow­jetis­che Bil­dungssys­tem ges­tat­tet. Die besten Absol­ven­ten der Hochschulen kon­nten (nur) in den Sicher­heits­di­en­sten ihre Kar­riere beschle­u­ni­gen und sich zu hochqual­i­fizierten Fach­leuten entwick­eln. Die “silowyje min­is­terst­wa”, die “Macht­min­is­te­rien” mit bewaffneten Ein­heit­en — Vertei­di­gungsmin­is­teri­um, Innen­min­si­teri­um und Geheim­di­enst — waren die “Kader­schmieden” der rus­sis­chen Elite. Diese Elite, die “Silow­ki” bildet eine Gemein­schaft, bei der Kar­ri­eren von per­sön­lichen Beziehun­gen gefördert wer­den. Auch Putin entstammt dieser Nach­wuchss­chmiede, allerd­ings mit einem bemerkenswerten “Bruch”. Am 19. August 1991 erfol­gte der Putsch gegen Michail Gor­batschow,  und am 20. August ver­ließ Putin den KGB, dessen Leit­er in den Putsch ver­wick­elt war. Für die Russen standen und ste­hen hin­ter diesem Datum große Entschei­dun­gen: wer sich damals vom KGB dis­tanzierte set­zte ein Zeichen gegen die Rück­en­twick­lung zum Stal­in­is­mus. Putin hat rasch gehan­delt — und (für die Russen) zum richti­gen Zeit­punkt. Am 21. August 1991 wäre es schon zu spät gewe­sen für dieses Zeichen. Putin arbeit­ete danach in der Stadtver­wal­tung von St. Peters­burg, dort begann seine poli­tis­che Kar­riere, die am 9. August 1999 als Min­is­ter­präsi­dent Rus­s­lands unter Boris Jelzin und am 31. Dezem­ber 1999 als rus­sis­ch­er Präsi­dent ihren Höhep­unkt erre­ichte — und die Ago­nie Rus­s­lands been­dete. Der Präsi­dent stärk­te den Staat,  und die Geheim­di­enst denen er seine Kar­riere ver­dankt. Dabei kehrte Putin zu der Art von Poli­tik zurück, die er als “pos­i­tiv” erlebt hat. Ein autoritär­er Staat, in dem die Wirtschaft auch der staatlichen Für­sorge unter­liegt — mit anderen Worten: Rus­s­lands “Oli­garchen” kön­nen in die eige­nen Taschen wirtschaften, solange sie sich (Beispiel: Chodor­kows­ki) poli­tisch nicht gegen den Kreml stellen.

Die Russen sind inzwis­chen wieder stolz auf ihr Land, patri­o­tisch — und sie kön­nen auch stolz darauf sein, dass Rus­s­land nicht im Chaos ver­sunken ist son­dern (die Entwick­lung der Devisen­re­ser­ven beweist es) wieder zurück kehrt auf die inter­na­tionale Bühne. Und da gehört ein Land auch hin, dessen Aus­dehnung sich über elf Zeit­zo­nen erstreckt, eine Groß­macht, deren Atom­waf­fen­po­ten­tial aus­re­icht, um die Erde in eine glob­ale strahlende Wüste zu verwandeln.

Mit der Annex­ion der Krim 2014 hat Rus­s­land aber wohl “den Bogen überspan­nt”. Die Hand­lun­gen Rus­s­lands wur­den im West­en als gnaden­los­es und kalt durchgerech­netes Kalkül ver­standen — ohne Rück­sicht auf ver­tragliche Zusagen zur ter­ri­to­ri­alen Integrität der Ukraine. Die USA zeigen deut­lich, dass sie bere­it sind, diese “Her­aus­forderung” anzunehmen. Oba­mas Sicher­heits­ber­a­terin Susan Rice beant­wortete am 21. März 2014 die Frage, ob Wash­ing­ton seine gesamte Rus­s­land­poli­tik über­denke, mit einem klaren Wort, mit: “Ja.” Und mit der Krim-Krise geht auch eine Wirtschaft­skrise für Rus­s­land ein­her: Obwohl die rus­sis­che Zen­tral­bank seit Beginn der Krise 30 Mil­liar­den Dol­lar für Stützungskäufe des Rubels aus­gegeben hat, hat sich der Ver­fall der rus­sis­chen Währung weit­er beschle­u­nigt. Gut zehn Prozent hat die Lan­deswährung bis zur vol­l­zo­ge­nen Annex­ion im März 2013 gegenüber Dol­lar und Euro eingebüßt.

Rus­s­lands Poli­tik zu Beginn des neuen Jahrhunderts: 

Das Kon­flik­t­po­ten­tial mit den USA wächst 

Die Russen ver­trauen Per­so­n­en, nicht Parteien, und an erster Stelle ver­trauen sie ihrem Präsi­den­ten Putin. Während sein­er Regierungszeit hat sich ein neuer Patri­o­tismus in Rus­s­land entwick­elt, der das riesige Land vielle­icht auch in der Nach-Putin-Ära zusam­men­hal­ten wird. Das Mis­strauen gegenüber Ameri­ka wächst spür­bar – mit ungewis­sem Aus­gang. Zur Europäis­chen Union sucht Moskau dage­gen weit­er eine enge Partnerschaft.”

Zitat: Eura­sis­ches Mag­a­zin, 05–06 · 30.05.2006, Inter­view mit Prof. Dr. phil. Eber­hard Schnei­der Mit­glied der Forschungs­gruppe Rus­s­land / GUS bei der Berlin­er Stiftung Wis­senschaft und Politik

Die heutige Entwick­lung in Rus­s­land ist vom West­en kaum mehr bee­in­fluss­bar. Der West­en hat seine his­torische Chance, auf Rus­s­land einzuwirken, vor­erst ver­tan“ „Man muss schon weit in die Geschichte zurück­blick­en, um sich daran zu erin­nern, wann es den Russen bess­er ging als heute“
Alexan­der Rahr, Pro­gram­mdi­rek­tor Russland/Eurasien der Deutschen Gesellschaft für Außen­poli­tik (DGAP) in „Rus­s­land gibt Gas. Die Rück­kehr ein­er Welt­macht“, Carl Hanser Ver­lag, 2008.

Der “Wieder­auf­stieg” Rus­s­lands unter Putin ist mit zwei Begleit­en­twick­lun­gen gekop­pelt: zum Einen erstarkt die unter Sow­jet­zeit­en arg mal­trätierte rus­sis­che Kirche wieder, zum Anderen greift ger­ade in der rus­sis­chen Jugend — aber auch bei vie­len Älteren — ein stark­er rus­sis­ch­er Patri­o­tismus um sich. Dieser Patri­o­tismus wird durch das wirtschaftliche Erstarken des rus­sis­chen Reich­es — nach dem Zer­fall der UdSSR und dem damit ver­bun­de­nen “Gesund­schrumpfen” gefördert.

Putins Nach­fol­ger im Präsi­den­te­namt — Dim­itri Med­wedew — hat ein wirtschaftlich erstark­tes und selb­st­be­wusstes Land über­nom­men.  Auf dem jährlichen Wirtschafts­fo­rum für Aus­landsin­ve­storen in St. Peters­burg kon­nte Med­wedew daher im Juni 2008 selb­st­be­wusst sagen: “Rus­s­land ist jet­zt ein ’Glob­al Play­er’ ”, und Hil­fe bei der Über­win­dung der glob­alen Finanzkrise anbi­eten. Ziel sein­er Poli­tik sei es, Rus­s­land zu einem glob­alen Finanzzen­trum und den Rubel zu ein­er führen­den Währung zu machen. “Wir haben den Plan, Moskau zu einem weltweit bedeu­ten­den Finanzzen­trum auszubauen und den Rubel zur führen­den regionalen Reservewährung zu machen”.

Dass Rus­s­land wieder selb­st­be­wusst Poli­tik betreibt musste Georgiens Präsi­dent Saakaschwilli im August 2008 erfahren. Nach­dem geor­gis­che Trup­pen am 7. August über die abtrün­nige Prov­inz Südos­se­tien herge­fall­en waren, schlu­gen rus­sis­che Trup­pen die  mit US-amerikanis­ch­er und israelis­ch­er Hil­fe trainierten geor­gis­chen Stre­it­mächte inner­halb kürzester Zeit zurück. Putin — nun als Min­is­ter­präsi­dent Rus­s­lands am “Rud­er der Macht” recht­fer­tigt diese Aktion im ARD-Inter­view wie fol­gt (kur­sive Stellen wur­den von ARD nicht gesendet):

Inter­view zwis­chen Thomas Roth und Wladimir Putin — “Mit Europa und den USA endet die Welt nicht”

Thomas Roth: Herr Min­is­ter­präsi­dent, nach der Eskala­tion in Georgien sieht das Bild in der inter­na­tionalen Öffentlichkeit so aus – damit meine ich Poli­tik, aber auch Presse: Rus­s­land gegen den Rest der Welt. Warum haben Sie Ihr Land mit Gewalt in diese Sit­u­a­tion getrieben?
Wladimir Putin: Was meinen Sie, wer hat den Krieg begonnen?
Thomas Roth: Der let­zte Aus­lös­er war der geor­gis­che Angriff auf Zch­in­wali
Wladimir Putin: [Ich] Danke Ihnen für diese Antwort. So ist es auch, das ist die Wahrheit. Wir wer­den dieses The­ma später aus­führlich­er erörtern. Ich möchte nur anmerken, dass wir diese Sit­u­a­tion nicht her­beige­führt haben.

Wladimir Putin: Ich bin überzeugt, dass das Anse­hen eines jeden Lan­des, das im Stande ist, das Leben und die Würde der Bürg­er zu vertei­di­gen, eines Lan­des, das eine unab­hängige Außen­poli­tik betreiben kann, dass das Anse­hen eines solchen Lan­des mit­tel- oder langfristig steigen wird. Umgekehrt: Das Anse­hen der Län­der, die in der Regel die Inter­essen ander­er Staat­en bedi­enen, die die eige­nen nationalen Inter­essen ver­nach­läs­si­gen – unab­hängig davon, wie sie das auch erk­lären mögen –, wird sinken.
Roth: Sie haben die Frage trotz­dem noch nicht beant­wortet, warum Sie die Iso­la­tion ihres ganzen Lan­des riskiert haben…
Putin: Ich dachte, geant­wortet zu haben, aber wenn sie zusät­zliche Erk­lärun­gen brauchen, das mache ich. Unser Land, das die Würde und den Stolz unser­er Bürg­er vertei­di­gen kann, und die außen­poli­tis­chen Verpflich­tun­gen im Rah­men der Friedenss­tiftung erfüllen kann, wird nicht in Iso­la­tion ger­at­en, ungeachtet dessen was unsere Part­ner in Europa und USA im Rah­men ihres Block­denkens sagen. Mit Europa und den USA endet die Welt nicht. Und im Gegen­teil, ich möchte es nochmal beto­nen: Wenn Staat­en ihre eigene nationale Inter­essen ver­nach­läs­si­gen, um außen­poli­tis­che Inter­essen ander­er Staat­en zu bedi­enen, dann wird die Autorität dieser Län­der – unab­hängig davon, wie sie das auch erk­lären mögen –, nach und nach sinken. D.h. wenn die europäis­chen Staat­en die außen­poli­tis­chen Inter­essen der USA bedi­enen wollen, dann wer­den sie, aus mein­er Sicht, nichts dabei gewin­nen.
Jet­zt reden wir mal über unsere inter­na­tionalen rechtlichen Verpflich­tun­gen. Nach inter­na­tionalen Verträ­gen haben die rus­sis­chen Frieden­s­tifter die Pflicht, die zivile Bevölkerung von Südos­se­tien zu vertei­di­gen. Und jet­zt denken wir mal an 1995 (Bosnien). Und wie ich uns Sie gut wis­sen, haben sich die europäis­chen Friedenss­tifter, in dem Fall repräsen­tiert durch nieder­ländis­che Stre­itkräfte, nicht in den Kon­flikt eingemis­cht und haben ein­er Seite damit erlaubt, einen ganzen Ort zu ver­nicht­en. Hun­derte wur­den getötet und ver­let­zt. Das Prob­lem und die Tragödie von Sre­breni­ca ist in Europa sehr bekan­nt. Woll­ten Sie, dass wir auch so ver­fahren? Dass wir uns zurück­ge­zo­gen hät­ten und den geor­gis­chen Stre­itkräften erlaubt hät­ten, die in Zch­in­wali lebende Bevölkerung zu ver­nicht­en?

Roth: Herr Min­is­ter­präsi­dent, Kri­tik­er sagen, Ihr eigentlich­es Kriegsziel war gar nicht, nur die südos­setis­che Bevölkerung – aus Ihrer Sicht – zu schützen, son­dern zu ver­suchen, den geor­gis­chen Präsi­den­ten aus dem Amt zu treiben, um den Beitritt Georgiens über kurz oder lang zur NATO zu ver­hin­dern. Ist das so?
Putin: Das stimmt nicht, das ist eine Ver­drehung der Tat­sachen, das ist eine Lüge. Wenn das unser Ziel gewe­sen wäre, hät­ten wir vielle­icht den Kon­flikt begonnen. Aber, wie sie selb­st sagten, das hat Georgien gemacht. Jet­zt ges­tat­te ich mir, an die Tat­sachen zu erin­nern. Nach der nicht legit­i­men Anerken­nung des Koso­vo haben alle erwartet, dass wir Südos­se­tien und Abchasien anerken­nen. Alle haben darauf gewartet und wir hat­ten ein moralis­ches Recht darauf. Wir haben uns mehr als zurück­ge­hal­ten. Ich will das auch nicht kom­men­tieren. Ja, mehr noch, wir haben das geschluckt. Und was haben wir bekom­men? Eine Eskala­tion des Kon­flik­tes. Über­fall auf unsere Friedenss­tifter. Über­fall und Ver­nich­tung der friedlichen Bevölkerung in Südos­se­tien. Das sind Tat­sachen, die ange­sprochen wur­den. Der franzö­sis­che Aussen­min­is­ter war in Nor­dos­se­tien und hat sich mit Flüchtlin­gen getrof­fen. Die Augen­zeu­gen bericht­en, dass die geor­gis­chen Stre­itkräfte mit Panz­ern Frauen und Kinder über­fahren haben, die Leute in die Häuser getrieben und lebendig ver­bran­nt haben. Geor­gis­che Sol­dat­en haben, als sie nach Zch­in­wali kamen, — so im vor­beige­hen – Granat­en in die Keller und Bunker gewor­fen, wo Frauen und Kinder sich ver­steckt hat­ten. Wie kann man so etwas anders nen­nen, als Genozid?
Und jet­zt zur Regierung in Georgien.
Das sind die Men­schen, die ihr Land in die Katas­tro­phe getrieben haben, die geor­gis­che Führung hat das mit eige­nen Aktio­nen gemacht. Die Staatlichkeit des eige­nen Lan­des tor­pediert. Solche Men­schen soll­ten keinen Staat führen, ob groß oder klein. Wären sie anständi­ge Per­so­n­en, soll­ten sie unbe­d­ingt zurück­treten.
Roth: Das ist jedoch nicht Ihre Entschei­dung, son­dern die der geor­gis­chen Regierung.
Putin: Natür­lich, jedoch ken­nen wir auch Präze­den­zfälle, die einen anderen Charak­ter haben. Ich erin­nere nur die amerikanis­che Inva­sion des Iraks und was sie mit Sad­dam Hus­sein gemacht haben, weil dieser ein paar schi­itis­che Dör­fer ver­nichtet hat­te. Und hier wur­den in den ersten Stun­den der Kampfhand­lun­gen auf südos­setis­chem Ter­ri­to­ri­um 10 ossetis­che Dör­fer voll­ständig ver­nichtet (aus­radiert).
Roth: Herr Min­is­ter­präsi­dent, sehen Sie sich denn im Recht, in das Ter­ri­to­ri­um eines sou­verä­nen Staates, näm­lich Georgien, vorzu­drin­gen und dort Bom­bardierun­gen durchzuführen? Ich selb­st sitze hier nur aus purem Zufall mit Ihnen, da buch­stäblich einige Meter von mir eine Bombe explodiert ist, die aus Ihrem Flugzeug abge­wor­fen wurde. Gibt Ihnen das aus völk­er­rechtlich­er Sicht das Recht…
Putin: Wir haben uns abso­lut im Rah­men des Völk­er­rechts bewegt. Wir haben den Angriff auf unsere Friedenss­tifter, auf unsere Bürg­er als ein Angriff auf Ruß­land aufge­fasst. In den ersten Stun­den der Kampfhand­lun­gen töteten die geor­gis­chen Stre­itkräfte mehre Dutzend unser­er Blauhelme. Haben unseren südlichen Posten, da war südlich­er und nördlich­er, mit Panz­ern eingekreist und direkt beschossen. Als unsere Blauhelm­sol­dat­en die Tech­nik aus einem Hangar holen woll­ten, wurde ein Schlag mit dem Artilleriesys­tem „Grad“ aus­ge­führt. 10 Leute, die in diesen Hangar reingin­gen, wur­den auf der Stelle getötet (lebendig ver­bran­nt). Danach hat die geor­gis­che Luft­waffe Luftschläge in ver­schiede­nen Punk­ten in Südos­se­tien durchge­führt. Nicht in Zch­in­wali, son­dern inmit­ten von Südos­se­tien. Und wir sahen uns gezwun­gen, die Ver­wal­tungspunk­te der geor­gis­chen Stre­itkräfte, die sich außer­halb der Kon­flik­t­zone befan­den, unschädlich zu machen. Das waren solche Punk­te, von wo die Artilleri­eschläge und die Luftan­griffe auf rus­sis­che Blauhelme koor­diniert und aus­ge­führt wur­den.

Roth: Ich hat­te ja gesagt, dass auch die Bom­bardierung der Zivil­bevölkerung stattge­fun­den hat. Sie haben wom­öglich nicht alle Infor­ma­tio­nen.
Putin: Ich ver­füge möglicher­weise nicht über alle Infor­ma­tio­nen. Im Zuge der Kampfhand­lun­gen sind Fehler möglich. Jet­zt ger­ade hat die amerikanis­che Luft­waffe in Afghanistan einen Schlag gegen die Tal­iban durchge­führt und hat fast 100 Leute aus der Zivil­bevölkerung getötet. Das ist die erste Möglichkeit. Die zweite, die wahrschein­lich­er ist: die Ver­wal­tungspunk­te der geor­gis­chen Artillerie, der Luft­waffe und Radarsta­tio­nen wur­den mutwillig mit­ten in den Wohnge­bi­eten platziert, damit die Wahrschein­lichkeit der Luftschläge gegen diese min­imiert wird. Sie haben die Zivil­bevölkerung und Sie als Geiseln benutzt.
Roth: das ist eine Mut­maßung.

Roth: Der franzö­sis­che Außen­min­is­ter Kouch­n­er hat viele Sor­gen geäußert in den let­zten Tagen, als Min­is­ter der Rat­spräsi­dentschaft. Er hat auch die Sorge geäußert, dass der näch­ste Kon­flik­therd um die Ukraine begin­nt, näm­lich um die Krim, um die Stadt Sewastopol. Ist die Krim das näch­ste Ziel, der Sitz der Schwarzmeer­flotte?
Putin: Sie sagten das näch­ste Ziel. Wir haben auch hier kein Ziel gehabt. Deshalb ist es nicht kor­rekt, so zu reden. Und, wenn Sie ges­tat­ten, dann bekom­men Sie eine zufrieden­stel­lende Antwort: Die Krim ist kein kri­tis­ches Ter­ri­to­ri­um, da hat es keinen eth­nis­chen Kon­flikt gegeben, im Unter­schied zum Kon­flikt zwis­chen Südos­se­tien und Georgien. Und Rus­s­land hat längst die Gren­zen der heuti­gen Ukraine anerkan­nt. Im Grunde genom­men haben wir die Gren­zver­hand­lun­gen abgeschlossen. Da bleiben nur Demarka­tion­san­gele­gen­heit­en, das ist eine tech­nis­che Angele­gen­heit. Und eine solche Frage riecht nach Pro­voka­tion. Da gibt es inner­halb der Krim kom­plizierte Prozesse, Krim-Tataren, ukrainis­che Bevölkerung, rus­sis­che Bevölkerung, also slavis­che Bevölkerung. Das ist aber ein internes Prob­lem der Ukraine. Es gibt einen Ver­trag über die Flotte bis 2017.
Roth: Wo ste­hen wir? Ist es nur eine Eiszeit, ist es schon ein kalter Krieg, hat das Wet­trüsten schon begonnen oder schließen sie alles aus?
Putin: Rus­s­land strebt kein­er­lei Ver­schiebun­gen an, kein­er­lei Span­nun­gen. Obwohl auch das sein kann. Wir wollen gut­nach­barschaftliche, part­ner­schaftliche Beziehun­gen unter­hal­ten. Wenn Sie erlauben, dann sage ich, was ich darüber denke. Es gab die Sow­je­tu­nion und den Warschauer­pakt. Und es gab die sow­jetis­chen Stre­itkräfte in der DDR, und man muss es ehrlich zugeste­hen, das waren Okku­pa­tion­skräfte, die nach dem Ende des zweit­en Weltkriegs in Ost­deutsch­land geblieben sind unter dem Deck­man­tel der Koali­tion­sstre­itkräfte. Nach dem Zer­fall der Sow­je­tu­nion, des Warschauer­pak­tes sind diese Okku­pa­tion­skräfte weg. Die Gefahr von Seit­en der Sow­je­tu­nion ist weg. Die NATO aber, die amerikanis­chen Stre­itkräfte, in Europa sind immer­noch da. Wofür?
Um Ord­nung und Diszi­plin in den eignen Rei­hen zu hal­ten, um alle Koali­tion­spart­ner inner­halb eines Blocks zu hal­ten, braucht man eine außen­ste­hende Gefahr. Und Iran ist da nicht ganz passend für diese Rolle. Man will daher einen Geg­n­er wieder­aufer­ste­hen lassen und dieser soll Ruß­land sein. In Europa jedoch fürchtet uns nie­mand mehr.

Roth: Die Europäis­che Union in Brüs­sel wird über Rus­s­land reden. Es wird wohl auch über Sank­tio­nen gegen Rus­s­land zumin­d­est gere­det wer­den, möglicher­weise wer­den sie beschlossen. Macht Ihnen das irgend eine Art von Sorge oder ist Ihnen das egal, weil Sie sagen, die Europäer find­en sowieso nicht zu ein­er Stimme?
Putin: Würde ich sagen, wir pfeifen drauf, es ist uns egal, würde ich lügen. Natür­lich ver­fol­gen wir alles sehr aufmerk­sam. Wir hof­fen, dass der gesunde Men­schen­ver­stand tri­um­phieren wird, und wir glauben, dass eine nicht poli­tisierte, son­dern objek­tive Ein­schätzung der Ereignisse gegeben wird. Wir hof­fen auch, dass die Aktio­nen der rus­sis­chen Friedenss­tifter unter­stützt wer­den und die Aktio­nen der geor­gis­chen Seite, diese ver­brecherische Aktion durchge­führt hat­te, sank­tion­iert wer­den.
Roth: Herr Min­is­ter­präsi­dent, müssen Sie sich in Wirk­lichkeit nicht entschei­den? Sie wollen auf der einen Seite auf eine inten­sive Zusam­me­nar­beit mit Europa nicht verzicht­en, Sie kön­nen es meines Eracht­ens wirtschaftlich auch gar nicht, ander­er­seits wollen Sie trotz­dem nach eige­nen rus­sis­chen Spiel­regeln spie­len. Also auf der einen Seite ein Europa der gemein­samen Werte, die Sie auch teilen müssen, ander­er­seits spie­len Sie nach rus­sis­chen Spiel­regeln. Bei­des zusam­men geht aber nicht…
Putin: Wir wollen nicht nach irgendwelchen beson­deren Spiel­regeln spie­len. Wir wollen, dass alle nach ein­heitlichen völk­er­rechtlichen Regeln vorge­hen. Wir wollen nicht, dass diese Begriffe manip­uliert wer­den, in ein­er Region die Regeln, in ein­er anderen die Regeln. Wir wollen ein­heitliche Regeln. Ein­heitliche Regeln, die die Inter­essen aller Teil­nehmer berück­sichti­gen.
Roth: Wollen Sie damit sagen, dass die EU je nach Region nach unter­schiedlichen Regeln han­delt, die nicht dem Völk­er­recht entsprechen?
Putin: Abso­lut. Wie hat man Koso­vo anerkan­nt? Man ver­gaß die ter­ri­to­ri­ale Sou­v­eren­ität der Staat­en, die UN-Res­o­lu­tion 1244, die sie selb­st beschlossen haben. Dort durfte man das und in Abchasien und Südos­se­tioen nicht. Warum?
Roth: D.h. Ruß­land ist einzig und allein fähig die Regeln des inter­na­tionalen Völk­er­rechts zu bes­tim­men. Alle anderen manip­ulieren, machen es wie sie wollen? Hab ich Sie richtig ver­standen?
Putin: Sie haben mich falsch ver­standen. Haben Sie die Unab­hängigkeit Kosovos anerkan­nt? Ja oder Nein?
Roth: Ich selb­st nicht, ich bin Jour­nal­ist.
Putin: Die west­lichen Län­der. Im Grunde haben es alle anerkan­nt. Nur, wenn man es dort anerken­nt, dann muss man auch die Unab­hängigkeit von Abchasien und Südos­se­tien anerken­nen. Es gibt über­haupt keinen Unter­schied. Der Unter­schied ist aus­gedacht. Dort gab es eth­nis­che Span­nun­gen und hier gibt es eth­nis­che Span­nun­gen. Dort gab es Ver­brechen – prak­tisch von bei­den Seiten‑, und hier kann man die wahrschein­lich find­en. Wenn man etwas „gräbt“, dann kann man die bes­timmt find­en. Dort gab es die Entschei­dung, dass bei­de Völk­er nicht mehr zusam­men in einem Staat leben kön­nen, und hier wollen sie es auch nicht. Es gibt keinen Unter­schied und alle ver­ste­hen es in Wirk­lichkeit. Das alles ist nur Gerede, um rechtwidrige Schritte zu deck­en. Das nen­nt man, das Recht des Stärk­eren. Und damit kann sich Ruß­land nicht abfind­en.
Herr Roth, Sie leben schon lange in Ruß­land, sie sprechen her­vor­ra­gend, fast ohne Akzent, rus­sisch. Dass Sie mich ver­standen haben, wun­dert mich nicht. Das ist mir sehr angenehm, jedoch möchte ich auch sehr, dass mich meine europäis­chen Kol­le­gen ver­ste­hen, die sich am 1. Sep­tem­ber tre­f­fen und über diesen Kon­flikt berat­en wer­den.
Wurde die Res­o­lu­tion 1244 angenom­men? Ja! Dort wurde unter­strichen geschrieben: ter­ri­to­ri­ale Sou­v­eren­ität Ser­bi­ens! Die Res­o­lu­tion haben die in den Müll wegge­wor­fen. Alles vergessen. Sie woll­ten die Res­o­lu­tion zuerst umdeuten, anders inter­pretieren, aber es ging nicht. Alles vergessen. Warum? Das Weißen Haus ord­nete an, und alle führen aus! Wenn die europäis­chen Län­der auch weit­er­hin eine solche Poli­tik führen, dann wer­den wir über europäis­che Angele­gen­heit­en in Zukun­ft mit Wash­ing­ton reden müssen.
Roth: Wo sehen Sie die Auf­gabe von Deutsch­land in dieser Krise?
Putin: Wir haben zu Deutsch­land sehr gute Beziehun­gen, ver­trauensvolle Beziehun­gen, sowohl poli­tis­che als auch ökonomis­che. Als wir mit Her­rn Sarkozy gesprochen haben, bei seinem Besuch hier, haben wir gesagt, dass wir kein­er­lei Ter­ri­to­rien in Georgien wollen. Wir wer­den uns in die Sicher­heit­szone zurückziehen, die in den früheren inter­na­tionalen Abkom­men vere­in­bart wurde. Aber da wer­den wir auch nicht ewig bleiben. Wir betra­cht­en das als geor­gis­ches Ter­ri­to­ri­um. Unsere Absicht beste­ht nur darin, die Sicher­heit zu gewährleis­ten und es nicht so zu machen, dass da Trup­pen und Kriegs­gerät heim­lich geballt wer­den. Und zu ver­hin­dern, dass da die Möglichkeit eines neuen Kon­flik­tes entste­ht. Dann begrüßen wir die Teil­nahme von Beobachtern der EU, der OSZE und natür­lich auch Deutsch­lands. Wenn die Prinzip­i­en der Zusam­me­nar­beit gek­lärt sind.
Roth: D.h. Sie wer­den ihre Trup­pen auf jeden Fall zurückziehen.
Putin: Natür­lich. Es ist für uns als erstes wichtig, die Sicher­heit in der Region sicherzustellen. Als näch­stes Südos­se­tien zu helfen, die eige­nen Gren­zen zu sich­ern. Danach haben wir keine Gründe mehr uns dort aufhal­ten zu müssen. Und währen dieser Arbeit wür­den wir die Koop­er­a­tion mit der EU, OSZE nur begrüßen.
Roth: Was kön­nen Sie unter der Berück­sich­ti­gung der Umstände, in dem sich diese Krise befind­et, der Beziehun­gen zur USA und Europa, zur Eskala­tion dieser Krise beitra­gen?
Putin: Als erstes, das habe ich bere­its gestern Ihren CNN-Kol­le­gen gesagt, dass diese Krise unter anderem von unseren amerikanis­chen Fre­un­den, im Zuge des Vor­wahlkampfes provoziert wurde. Das schließt auch die Nutzung der admin­is­tra­tiv­en Ressourcen in ein­er sehr bedauern­swerten Aus­führung ein, um einem der Kan­di­dat­en eine Mehrheit sicherzustellen. In dem Fall, dem der Regierungspartei.
Roth: Das glauben Sie wirk­lich? [auf rus­sisch]: Das ist kein Fakt
Putin: [auf deutsch]: Das ist kein Fakt. [weit­er auf rus­sisch] Wir wis­sen, dass es dort viele amerikanis­che Berater gegeben hat. Das ist sehr schlecht, wenn man eine Seite des eth­nis­chen Kon­flik­ts zuerst aufrüstet und sie dann dazu drängt, die Lösung des eth­nis­chen Prob­lems auf mil­itärischem Wege zu suchen. Das scheint auf den ersten Blick ein­fach­er zu sein, als mehrjährige Ver­hand­lun­gen zu führen, Kom­pro­misse zu suchen. Das ist jedoch ein sehr gefährlich­er Weg. Und die Entwick­lung der Ereignisse hat es gezeigt.
Instruk­toren, Lehrer im weit­en Sinne, Per­son­al, welch­es die Nutzung der geliefer­ten Tech­nik zeigt, sie alle müssen sich wo befind­en? Auf Übungsan­la­gen und in den Übungszen­tren. Und wo waren diese Leute? In der Kampf­zone! Und das drängt den Gedanken auf, dass die amerikanis­che Führung über die vor­bere­it­ete Aktion gewusst und mehr noch an dieser teilgenom­men hat. Ohne einen Befehl der ober­sten Führung dür­fen sich amerikanis­che Bürg­er nicht in der Kon­flik­t­zone aufhal­ten. In der Sicher­heit­szone durften sich lediglich die zivile Bevölkerung, Beobachter der OSZE und die Blauhelme. Wir jedoch haben da Spuren von amerikanis­chen Staat­sange­höri­gen gefun­den, die kein­er dieser Grup­pen ange­hören. Das ist die Frage: wieso hat die Führung der USA es erlaubt, sich ihren Bürg­ern dort aufzuhal­ten, die dort kein Recht dazu hatten?Und wenn sie es erlaubt haben, dann hab ich die Ver­mu­tung, dass es mutwillig passiert ist, um einen kleinen, siegre­ichen Krieg zu organ­isieren. Und falls das schiefläuft, Ruß­land in die Rolle des Geg­n­ers zu drän­gen, um daraufhin das Wahlvolk hin­ter einem der Präsi­dentschaft­skan­di­dat­en zu vere­ini­gen. Natür­lich dem der Regierungspartei, da nur diese über eine solchen Ressource ver­fü­gen kann. Das sind meine Aus­führun­gen und Ver­mu­tun­gen. Es ist Ihre Sache, ob Sie mir zus­tim­men oder nicht. Aber sie haben das Recht zu existieren, da wir Spuren von amerikanis­chen Staat­sange­höri­gen in der Kampf­zone gefun­den haben.
Roth: Und eine let­zte Frage, die mich sehr inter­essiert. Denken Sie nicht, dass Sie sich in der Falle Ihres eige­nen autoritären Sys­tems befind­en? Sie kriegen Infor­ma­tio­nen von Ihren Geheim­di­en­sten und anderen Quellen, jedoch haben die Medi­en Angst etwas zu bericht­en, was nicht mit der Lin­ie der Regierung übere­in­stimmt. Ist es nicht so, dass das von Ihnen geschaf­fene Sys­tem, Ihnen die Möglichkeit eines bre­it­en Sicht­feldes auf diesen Kon­flikt nimmt, auf die Geschehnisse in Europa und anderen Län­dern?
Putin: Sehr geehrter Herr Roth, Sie haben unser poli­tis­ches Sys­tem als autoritär beze­ich­net. Sie haben in unser­er heuti­gen Diskus­sion auch mehrfach über unsere gemein­samen Werte gesprochen. Woraus beste­hen diese? Es gibt einige grund­liegende Werte, wie das Recht zu leben. In USA z.B. gibtes immer­noch die Todesstrafe, in Ruß­land und Europa gibt es die nicht. Heißt das denn, dass Sie aus dem NATO-Block aus­treten wollen, weil es keine voll­ständi­ge Übere­in­stim­mung der Werte zwis­chen den Europäern und Amerikan­ern gibt?
Jet­zt zum Kon­flikt, über den wir heute sprechen. Wis­sen Sie denn nicht, was sich in Georgien die let­zten Jahre abge­spielt hat? Rät­sel­hafter Tot des Min­is­ter­präsi­den­ten Shwa­nia, Nieder­schla­gung der Oppo­si­tion, physis­che Zer­schla­gung von Protest­märschen der Oppo­si­tionellen, Durch­führung der Wahlen während eines Aus­nah­mezu­s­tands und jet­zt diese ver­brecherische Aktion in Osse­tien mit vie­len Toten. Und da ist natür­lich ein demokratis­ches Land, mit der ein Dia­log über die Auf­nahme in die NATO oder gar EU geführt wer­den muss. Und wenn ein anderes Land seine Inter­essen vertei­digt, das Recht sein­er Bürg­er auf Leben vertei­digt, 80 unser­er Leute wur­den sofort getötet, 2000 aus der zivilen Bevölkerung wur­den getötet und wir dür­fen unsere Bürg­er dort nicht schützen? Und wenn wir das machen, dann nimmt man uns die Wurst weg? Wir haben die Wahl Wurst oder Leben. Wir wählen das Leben, Herr Roth.
Jet­zt über den anderen Wert: Presse­frei­heit. Sehen Sie nur wie diese Ereignisse in der amerikanis­chen Presse beleuchtet wer­den, die als leuch­t­en­des Beispiel der Demokratie gilt. Und in der europäis­chen ist es ähn­lich. Ich war in Peking, als die Ereignisse anfin­gen. Massiert­er Beschuß von Zch­in­wali, Anfang des Vorstoßes der geor­gis­chen Trup­pen, es gab sog­ar bere­its vielfache Opfer, es hat kein­er ein Wort gesagt. Auch Ihre Anstalt hat geschwiegen, alle amerikanis­chen Anstal­ten. So als ob gar nichts passiert. Erst als der Agres­sor „in die Fresse“ bekam, “Zähne raus­geschla­gen” bekom­men hat, als er seine ganze amerikanis­che Aus­rüs­tung aufgegeben und ohne Rück­sicht ger­an­nt ist, haben sich alle erin­nert. An das inter­na­tionale Völk­er­recht, an das böse Ruß­land. Da waren alle wieder auf der Stelle. Wieso eine solche Willkür [in der Berichter­stat­tung]?
Nun zur „Wurst“: Wirtschaft. Wir wollen nor­male, wirtschaftliche Beziehun­gen zu allen unseren Part­nern. Wir sind ein sehr zuver­läs­siger Part­ner, wir haben noch nie einen Part­ner bet­ro­gen. Als wir Anfang der 60er die Pipeline in die BRD gebaut haben, hat unser transat­lantis­ch­er Part­ner den Deutschen ger­at­en, diesem Pro­jekt nicht zuzus­tim­men. Sie müssen das ja wis­sen. Damals hat die Führung Deutsch­lands die richtige Entschei­dung getrof­fen und die Pipeline wurde zusam­men mit der Sow­je­tu­nion gebaut. Heute ist eine der zuver­läs­sig­sten Gas-Quellen für die deutsche Wirtschaft. 40 Mrd. m³ bekommt Deutsch­land jedes Jahr. Und wird es auch weit­er­hin, das garantiere ich. Sehen wir uns das glob­aler an. Wie ist die Struk­tur unseres Exports in die europäis­chen Län­der und auch in die USA? 80 % davon sind Rohstoffe (Öl, Gas, Ölchemie, Holz, Met­alle). Das alles ist von der europäis­chen und Weltwirtschaft in höch­sem Maße gefragt. Das sind sehr gefragte Pro­duk­te auf dem Welt­markt. Wir haben auch die Möglichkeit­en in hochtech­nol­o­gis­chen Gebi­eten, die sind jedoch sehr begren­zt. Mehr noch, trotz rechts­gültiger Abkom­men mit der EU beispiel­sweise über atom­aren Brennstoff, wer­den wir rechtswidrig vom europäis­chen Markt fer­nge­hal­ten. Wegen der Posi­tion unser­er franzö­sis­chen Fre­unde. Aber sie wis­sen davon, wir haben mit denen lange disku­tiert. Und wenn jemand diese Beziehun­gen aufgeben will, dann kön­nen wir nichts dage­gen machen. Wir wollen das jedoch nicht. Wir hof­fen sehr, dass unsere Part­ner ihre Pflicht­en genau­so erfüllen, wie wir unsere.
Das war über unseren Export. Was Euren Export, also unseren Import, ange­ht, so ist Ruß­land ein sehr zuver­läs­siger und großer Markt. Ich erin­nere mich jet­zt nicht an genaue Zahlen, Import der Maschi­nen­bautech­nolo­gie aus Deutsch­land wächst von Jahr zu Jahr. Dieser ist sehr groß heutzu­tage. Und wenn jemand uns nicht mehr beliefern will, dann wer­den wir das wo anders kaufen. Nur wer braucht das, ver­ste­he ich nicht?
Wir drän­gen auf eine objek­tive Analyse der Geschehnisse und wir hof­fen, dass gesun­der Men­schen­ver­stand und die Gerechtigkeit siegen wer­den. Wir sind das Opfer der Aggres­sion und wir hof­fen auf die Unter­stüzung unser­er europäis­chen Part­ner.

 

 

 

Quellen:

 

Extern­er Link:
SPIEGEL-Dossier: Rus­s­land — Putins Reich