Trotzdem hat Indien vor allem im ländlichen Bereich noch unendliche Ressourcen. Bei den fast 800 Millionen Landbewohnern kommt der Fortschritt langsam an. Und immer noch (Stand 2007) sind rund 150 Millionen Inder der absoluten Unterklasse zuzurechnen, die tagtäglich Mühe hat, sich satt zu essen. Zum Jahreswechsel 2007/2008 hatten 30 % der Inder ein Einkommen von unter 1 $ pro Tag, und 80 % verdienen nicht mehr als 2 $. Noch 1950 wurden über 70 % des BIP Indiens in den Dörfern des Landes erwirtschaftet. Dieser Anteil verschiebt sich massiv zu Gunsten der Städte (siehe oben unter “Motorrad-Ökonomie”). Dennoch ist die Landbevölkerung das “Sorgenkind” der indischen Volkswirtschaft. Große Verlierer der Enwicklung sind Indiens Kleinbauern. Eine Serie von Selbstmorden hat auch internationale Organisationen auf das Elend der verschuldeten und zunehmend von Konzernen (Saatgut) und Kredithaien abhängigen Landbevölkerung aufmerksam gemacht. Rund 30 Mio. Bauern haben weniger als zwei Hektar Land zu bewirtschaften — und vielfach gibt es keine sichere Wasserversorgung, oder diesen Kleinbauern gehört das Land nicht einmal, oder es so dass neben horenden Kosten für Dünger, Saatgut und Wasser auch noch die Pacht an den Grundbesitzer zu zahlen ist. Ochsenkarren-Ökonomie:
Gänzlich unberührt von der Hektik der Industriegesellschaft lebt die Landbevölkerung seit Jahrhunderten den gleichen, gemächlichen Lebensstil, der von Monsun und Kastenregeln bestimmt ist. In Indien bleibt die Landbevölkerung in den Dörfern, den Großgrundbesitzern verpflichtet.
Wer dennoch ausbricht und sein Glück in der Stadt versucht, landet in Slums, die sich am Rande der Städte etwa entlang der Schienenwege wie Geschwüre ausbreiten. Etwa 35 bis 40 % der Inder lebten nach Schätzungen von Entwicklungsexperten 1993 noch immer unter der Armutsgrenze. Der Wert ist 2006 zwar auf 20 % gefallen, aber mehr als 30 % der Inder verdient immer noch weniger als einen Dollar am Tag.
Indien gelingt es nur langsam, die Geburtenrate zu senken. Während in China — dank rüder Methoden — inzwischen eine Geburtenrate von 1,80 Kinder je Frau prognostiziert wird, wird für Indien im Zeitraum zwischen 2000 und 2005 immer noch mit einer Geburtenrate von 2,97 gerechnet; das ist zwar deutlich weniger als die 5,43 Kinder, die zwischen 1970 und 1975 in der Statistik des UNO “World Population Report” auftauchten, aber immer noch über der magischen Zahl von 2,3 — die weltweit als Schlüsselzahl für eine stagnierende Bevölkerung bezeichnet wird.
“Indien wird “- so die Wirtschaftswoche Nr. 10 vom 27.02.2003 — “in den nächsten zehn Jahren weitere 100 Millionen Menschen auf seinem Arbeitsmarkt verkraften und die Produktion seiner Landwirtschaft um 50 % steigern müssen — unter den gegebenen Umständen eine unmögliche Aufgabe.”
Dabei muss allerdings eine Differenzierung vorgenommen werden: die Armut auf dem Land und die in den Slums der Städte unterscheidet sich.
Auf dem Land lebt ein großer Teil der Bevölkerung in hoffnungsloser Armut. Die eigenen Felder sind zu klein, um eine Familie zu ernähren. Das Kastenwesen steht einer Veränderung entgegen. Wer nicht weiterhin als Tagelöhner ein elendes Dasein fristet — oder (zunehmend) zum Selbstmord greift — hat kaum Aussichten, an der persönlichen Situation etwas ändern zu können.
Viele Hoffnungslose wandern daher in die Städte, um etwa als Hilfsarbeiter bei den großen Baustellen ein Auskommen zu finden. Die Slums der indischen Städte sind aber auch hocheffektive, gut organisierte Wirtschaftseinheiten. Vielfach herrscht eine Aufbruchstimmung, die mit der eigenen wirtschaftlichen Situation, mit den Lebensbedingungennicht übereinzustimmen scheint.
“Indien” — so hat es der Finanzminister des Staates im Februar 2005 formuliert — “ist kein armes Land, aber ein bedeutender Teil der Bevölkerung ist arm”.
Indiens Regierungen stehen unter massivem Druck. Wer unter dem Slogan der Armutsbekämpfung zur Wahl antritt und damit gerade die Wählerstimmen der unterprivilegierten einheimst, der muss auch seine Politik an diesem Wahlversprechen messen lassen. Tatsächlich erreicht der Boom in den Wachstumsmärkten wie der Computer-Branche die breite Masse der auf dem Land lebenden Bevölkerung nicht. Die indische Regierung setzt daher derzeit (2005) auf deutlich erhöhte Ausgaben für Bildung, Gesundheitsvorsorge und Entwicklung der bäuerlichen Wirtschaft, um auch der Landbevölkerung eine Teilhabe am Wohlstand des Landes zu ermöglichen — und dem Aufschwung der aufstrebenden Regionalmacht eine breitere Basis zu geben.
Indiens Technologie-Schmiede ITC hat dabei einen völlig neuen Weg beschritten: Im Jahre 2001 wurden im ländlich geprägten Bundesstaat Madya Pradesh in den Dörfern Internetanschlüsse mit Computern installiert. Die Bauern begannen zunehmend dieses Angebot zu nutzen, um Betriebsmittel (z.B. Dünger) preisgünstig zu erwerben und die eigenen Produkte hochpreisig zu verkaufen. Dadurch konnten auch die angschlossenen Bauern ihre Gewinne deutlich erhöhen., was auch in den Nachbardörfern zu entsprechender Nachfrage führte. Binnen zwei Jahren waren fast 2 Mio. Dörfer am Netz angeschlossen.