Raketenabwehr in Europa — Quo vadis Deutschland?

Dieses Sys­tem ist zusam­men mit dem von den USA entwick­el­ten Mul­ti­funk­tion­sradar SPY1 und dem elek­tro­n­is­chen Warn- und Flugkör­per­lenkungssys­tem AEGIS schon heute – zumin­d­est im begren­zten Rah­men – für die Abwehr von Mit­tel­streck­en­raketen ein­set­zbar. Das Sys­tem SM‑3 ver­fügt darüber hin­aus über ein enormes Aufwuchspoten­zial und wird von den USA (zusam­men mit Japan) fort­laufend weit­er­en­twick­elt. Mit diesen Abwehrraketen kön­nen feindliche Mit­tel­streck­en­raketen außer­halb der Atmo­sphäre zer­stört werden. 

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Start ein­er SM‑3 (Foto: US Navy)
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Im Ein­satz befind­et sich die Ver­sion SM‑3 Block 1A. Block 1B ste­ht vor der Ein­führung, Block 2A befind­et sich in der Entwick­lung und Block 2B in der Pla­nungsphase. Die Leis­tungssteigerun­gen zwis­chen den einzel­nen Ver­sio­nen sind enorm, ins­beson­dere zwis­chen Block 1 und Block 2. Mit der Ver­sion Block 2B kön­nten nach Experten­mei­n­ung sog­ar Interkon­ti­nen­tal­raketen wirk­sam abge­fan­gen wer­den. Ges­tartet wer­den die SM-3-Flugkör­p­er aus dem hochkom­plex­en Starter­sys­tem MK 41 VLS (Ver­tikal Launch Sys­tem), welch­es im Rumpf von Schif­f­en ver­baut wird. Dieses Sys­tem ist in der US-Navy weit ver­bre­it­et und ver­schießt heute in der Regel den Flugkör­p­er SM‑2 zur Bekämp­fung von Seekampfraketen und Flugzeu­gen. Er besitzt jedoch auch die Fähigkeit, SM-3-Raketen zu verschießen. 

Auch Deutsch­land und Däne­mark ver­fü­gen heute bere­its über Starter­sys­teme des Typs MK 41 VLS. In Deutsch­land ist es auf drei Fre­gat­ten der F124-Klasse im Ein­satz – bish­er auss­chließlich zum Ver­schießen von SM‑2 und ESSM (Evolved Sea Spar­row Mis­sile). Das Gle­iche gilt für die vier nieder­ländis­chen Fre­gat­ten LCF und die drei jüng­sten dänis­chen Fre­gat­ten. Alle diese Fre­gat­ten­klassen ver­fü­gen daneben über das hochkom­plexe, enorm leis­tungs­fähige Weit­bere­ich­sradar SMART L, ein in gle­ich­er Weise hochmod­ernes Flugkör­per­lenkungsradar APAR und ein hochmod­ernes IT-Sys­tem zur Koor­dinierung und Lenkung der Abwehr von mehreren gle­ichzeit­ig anfliegen­den feindlichen Seekampfraketen. Diese Sen­sor- und IT-Ein­satzsys­teme sind in ihrer Grund­struk­tur so fortschrit­tlich, dass eine gemein­same Aufrüs­tung auf das Niveau von AEGIS und SPY1 mit real­is­tis­chem Aufwand für die genan­nten Staat­en möglich ist. Umfassende Unter­suchun­gen, aber auch reale Testschüsse der Nieder­län­der, die sie gemein­sam mit der US-Navy und den beteiligten US-Fir­men und Insti­tuten durchge­führt haben, liefern für diese Annahme eine ver­lässliche Grundlage. 

Erste ser­iöse Kosten­schätzun­gen gehen von einem Finanzierungs­be­darf in Deutsch­land von rund 500 Mio. Euro aus. Darin enthal­ten wäre die notwendi­ge Aufrüs­tung der drei F124 auf »echt­es« AEGIS-Niveau, ein­schließlich ein­er kleineren SM-3-Ausstat­tung. Durch eine Beteili­gung am SM-3-Pool kön­nte dieser Betrag, wie auch Uhl in seinem Beitrag richtig aus­führt, noch reduziert wer­den. Auf­grund der gemein­samen Entwick­lungsar­beit von BWB und Marinearse­nal mit den Nieder­län­dern, Thales, EADS und den US-Amerikan­ern am Sys­tem F124 stünde zudem mit der F124 nicht nur eine ver­gle­ich­sweise preiswerte Basis, son­dern auch sachkundi­ges Per­son­al in Ver­wal­tung und Indus­trie zur Ver­fü­gung. Auch das senkt das Entwick­lungs- und Kosten­risiko noch ein­mal erheblich. 

Schließlich ergäbe sich für Deutsch­land die Möglichkeit, die hochkom­plex­en, in Anschaf­fung und Unter­halt recht teuren F124 mit ein­er bedeu­ten­den, angemesse­nen Auf­gabe zu betrauen und sie in eine europäis­che Sicher­heitsstrate­gie einzu­binden, anstatt sie mit Auf­gaben wie der Piraten­bekämp­fung dauer­haft unter Niveau zu ver­schleißen. Auch das ist sicher­lich zumin­d­est indi­rekt ein beachtlich­es Koste­nar­gu­ment – auch für den Steuerzahler. Gemein­sam mit den Nieder­lan­den und Däne­mark kön­nten in der Zielpla­nung zehn solch­er Schiffe zur Raketen­ab­wehr inner­halb des BMD zur Ver­fü­gung ste­hen. Deren Ein­satz- und Verteilung­sop­tio­nen hat Herr Uhl in seinem genan­nten Artikel überzeu­gend und abschließend dargestellt. Als beson­der­er Vorteil dieser schiffs­basierten Lösung sollte noch ein­mal aus­drück­lich betont wer­den, dass diese Schiffe sehr flex­i­bel zur Vertei­di­gung Europas einge­set­zt wer­den könnten. 

Deutsch­land würde mit der Imple­men­tierung der SM‑3 den notwendi­gen sub­stanziellen Beitrag inner­halb des NATO-Abwehrschirms leis­ten. Gemein­sam mit Däne­mark und den Nieder­lan­den kön­nten wir als eines der wirtschaftlich stärk­sten Län­der in Europa etwas anbi­eten, das eine spür­bare Unter­stützung wäre. Eine Unter­stützung, die in dieser Form nie­mand anderes beizus­teuern in der Lage wäre. Die Mari­nen der Briten, Fran­zosen und Ital­iener haben zwar eben­falls mod­erne leis­tungsstarke Fre­gat­ten mit der Fähigkeit, Seekampfraketen zu zer­stören (z.B. Hori­zon- Klasse). Sie kön­nen aber keine SM- 3 aus ihren Launch­ern starten und ver­fü­gen zudem über völ­lig dif­fer­ente Tech­niken zur Flugkör­per­lenkung. Insofern hätte Deutsch­land, zusam­men mit den Nieder­län­dern und Dänen, ein Alle­in­stel­lungsmerk­mal in der Euro-Group der NATO

Faz­it

Die Bun­desregierung, namentlich das Bun­desmin­is­teri­um der Vertei­di­gung, wäre gut berat­en, jet­zt entschlossen zu han­deln. Die Nieder­län­der haben mit Schreiben vom 13. Okto­ber 2011 offiziell mit­geteilt, dass sie wil­lens sind, den eben skizzierten Weg zu gehen, zunächst beschränkt auf die Weit­er­en­twick­lung des Weit­bere­ich­sradars Smart L zu einem leis­tungs­fähi­gen Bal­lis­tic Mis­sile Defence Sen­sor. Sie haben Deutsch­land eine bilat­erale Zusam­me­nar­beit ange­boten. Auf meine par­la­men­tarische Anfrage vom Novem­ber 2011 erhielt ich zu diesem Vor­gang lei­der nur vage Auskün­fte. Die mir über­mit­telte Antwort der Bun­desregierung war im Kern hin­hal­tend. Offen­sichtlich möchte man noch keine Fes­tle­gun­gen tre­f­fen, um sich im Hin­blick auf den Mis­sile Defence Action Plan bis Ende 2012 mögliche andere Optio­nen offen zu hal­ten. Das nieder­ländis­che Vertei­di­gungsmin­is­teri­um wurde inzwis­chen offiziell entsprechend informiert. Welche »anderen Optio­nen « die Bun­desregierung hier im Auge hat, erschließt sich jedoch auch den sachkundi­gen Experten bish­er nicht. Welche Alter­na­tiv­en zum SM-3-Pro­gramm gibt es, die einen sub­stanziellen Beitrag Deutsch­lands im Rah­men von BMD leis­ten könnten? 

Die Absage an den nieder­ländis­chen Vertei­di­gungsmin­is­ter war vor dem Hin­ter­grund der oben dargelegten Aus­führun­gen ein Fehler. Ein Fehler, der eine viel zu zöger­liche und zaghafte Vorge­hensweise des Vertei­di­gungsmin­is­teri­ums in dieser Frage offen zutage treten lässt. Das nieder­ländis­che Ange­bot anzunehmen ver­schließt keine Türen, es wäre aber ein wichtiges Sig­nal an unsere NATO-Part­ner und ein gutes Zeichen in Sachen gemein­samer europäis­ch­er Sicherheitspolitik. 

Für die Nieder­lande ist damit wohl der Schritt zum SM-3-Gesamt­sys­tem, also ein­schließlich der so genan­nten »shoot­er-capa­bil­i­ty«, erst ein­mal in weite Ferne gerückt. Allein will man diesen Weg nicht gehen. Die dama­lige dänis­che Vertei­di­gungsmin­is­terin Gitte Lil­lelund Bech hat­te erst kür­zlich in einem Zeitungsin­ter­view erk­lärt, dass man bewusst dieselbe Sen­sor- und Launch­er-Ausstat­tung für die drei neuesten Fre­gat­ten gewählt habe, um gegebe­nen­falls den Deutschen und Nieder­län­dern auf dem Weg in eine europäis­che Mis­sile-Defence-Fähigkeit fol­gen zu kön­nen. Doch auch sie wer­den ohne einen deutschen Part­ner dieses Pro­jekt wohl nicht zu Ende führen. 

Es bleibt zu hof­fen, dass die Gedanken im Vertei­di­gungsmin­is­teri­um in Sachen sub­stanzieller Beitrag zur BMD noch nicht auf ein­er Sand­bank aufliegen. Es bietet sich hier die ein­ma­lige Möglichkeit für eine deutsche Ini­tia­tive. Im Ver­bund mit zwei europäis­chen NATO-Part­nern kön­nte Deutsch­land eine führende Rolle bei der Raketen­vertei­di­gung Europas übernehmen und damit auch als Part­ner der USA ein größeres Gewicht erlan­gen. Das Zeit­fen­ster bis zur NATO-Kon­ferenz im Mai 2012 ste­ht jet­zt noch offen. Wir soll­ten das nutzen. 

Zum Autor
Ein Diskus­sions­beitrag von MdB (SPD) Karin Evers-Mey­er, Mit­glied im Vertei­di­gungsauss­chuss, zur deutschen Beteili­gung am geplanten Bal­lis­tic Mis­sile Defense (BMD)

Die Autorin Karin Evers-Mey­er, Mit­glied des Deutschen Bun­destages, ist Stel­lvertre­tende Vertei­di­gungspoli­tis­che Sprecherin der SPD-Bun­destags­frak­tion und Marinepoli­tis­che Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion. 

Team GlobDef

Seit 2001 ist GlobalDefence.net im Internet unterwegs, um mit eigenen Analysen, interessanten Kooperationen und umfassenden Informationen für einen spannenden Überblick der Weltlage zu sorgen. GlobalDefence.net war dabei die erste deutschsprachige Internetseite, die mit dem Schwerpunkt Sicherheitspolitik außerhalb von Hochschulen oder Instituten aufgetreten ist.

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